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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Der letzte Federstrich war geschehen; bedächtig streute der Graf Sand über das Blatt und überlas noch einmal, was er geschrieben. Er war so sehr bei der Sache, daß ihm das immer näher kommende Rollen eines Wagens entging. Nun schallte es dicht an den Fenstern des Schlosses. Der Graf blickte auf. Besuch? Seit die Condolenzen des benachbarten Adels, welche sich in den ersten, Tagen förmlich drängten, überstanden waren, hatte Schloß Riedegg vor Besuchern Ruhe gehabt. Wer mochte heute vorsprechen? Er faltete das Blatt zusammen, legte es in ein Fach des Pergamentschrankes und schloß dessen Thüren; das durch die Fenster hereinströmende Sonnenlicht brach sich im Schimmer des Metall- und Perlmutterglanzes. Die Augen des Grafen hafteten zerstreut auf den Blumen und Arabesken des kostbaren alten Geräthes. Es war eines jener Besitzstücke, auf die er Werth gelegt – heute war ihm die ganze Welt und Alles, was sie an Besitz für ihn umschloß gleichgültig.

Die erwartete Meldung blieb nicht lange aus, war aber sichtlich unerwarteter Art:

„Gräfin Riedegg wünsche den Herrn Grafen zu sprechen.“

„Wer, Joseph?“

„Die Gnädige ist mir unbekannt,“ sagte der Alte respectvoll. „Da Störung untersagt war, führte ich die Frau Gräfin in den kleinen Salon, glaubte aber doch Meldung machen zu sollen, weil Hochdieselbe Excellenz gleich zu sehen wünschten.“

„Gut! Ich komme hinüber.“

Als der Diener sich zurückgezogen, zögerte Graf Raimund noch einen Moment. Der Umstand, daß sein alter Kammerdiener eine Dame, welche den Namen Riedegg trug, nicht von Person kannte, fiel ihm auf; denn es gab wenige Frauen in der Familie. Mit unbestimmter Vorahnung neuen Unheils durchschritt der alte Herr die Gallerie, welche den Eckthurm mit dem andern Flügel verband, und als er die Schwelle des Salons überschritten hatte, blieb er staunend stehen.

Eine hohe, jugendliche Gestalt, deren marmorblasses Gesicht aus wallendem Trauerschleier blickte, trat ihm entgegen. Die Falten des schwarzen Gewandes glitten an königlich schönen Formen nieder, und während sich die Augen Beider begegneten, mischte sich in das unverhohlene Befremden, welches der Blick des Grafen aussprach, ein schärferer, gespannter Zug. Es war ihm, als habe er dieses schöne Gesicht bereits früher gesehen. Alles in ihm setzte sich gleichsam im Voraus zur Wehr gegen die Ahnung, welche in ihm aufzudämmern begann. Zur ganzen Höhe seiner Hünengestalt aufgerichtet, trat er einige Schritte vor.

„Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er, indem er sich leicht verbeugte, mit eisiger Höflichkeit.

„Sie haben nach mir gesandt, Herr Graf.“

„Nach Ihnen gesandt?“ fragte er, und sein Blick traf sie scharf wie Stahl. „Also – in der That? Sie, Fräulein von Meillerie, waren meines Sohnes – Freundin?“

Sie wurde weiß bis in die Lippen, und ein glühender Strahl flammte in ihrem Auge auf, um sogleich wieder zu erlöschen.

„Meinhard war mein Gatte,“ erwiderte sie, beide Hände gegen die Brust gepreßt, stolz und feierlich.

„Vor Gott, wie man zu sagen pflegt,“ erwiderte der Graf gelassen. „Nehmen Sie Platz, Mademoiselle! Ich bin wahrlich nicht geneigt, um Worte mit Ihnen zu streiten. Sie finden mich bereit, Ihnen in jeder Weise entgegenzukommen, sowohl in Betreff Ihrer selbst wie Ihres Sohnes dessen Graf Meinhard vor seinem Abscheiden erwähnte.“

Genoveva’s mit allem Aufgebote ihres Willens gesammelte Kraft wankte plötzlich. „Vor seinem Abscheiden!“ dieses Wort, hier in Meinhard’s Heimath, von seinem Vater ausgesprochen, traf sie, als erführe sie nun erst, daß der Heißgeliebte ihr wirklich verloren, daß Liebe und Wonne auf ewig hin, ihre Sonne untergegangen war. Was sie zu sagen, zu fordern gekommen, verschwand ihr vor dem ungeheuren, unfaßbaren Schmerze, der sich vernichtend um ihre Seele klammerte und sie niederwarf. Eine Fluth von Thränen stürzte ihr aus dem Herzen in die Augen, und ohne des Grafen zu achten, warf sie sich vor dem Sessel, welchen er ihr zugeschoben, auf die Kniee und drückte ihre strömenden Augen gegen die Polster.

Graf Raimund betrachtete sie einige Minuten, ohne sie zu stören. Ein anderer Moment, in welchem er sie früher gesehen, stand vor seinem Gedächtnisse – damals strahlte sie in erster Jugend, von duftigen Ballgewändern umwallt, wie heute vom Trauerschleier, bestrickend gleich einer Willy im Reigen der Tänzer. Ja, das Weib war schön, und er begriff, wie sie Meinhard, gerade Meinhard hatte fesseln können; denn jeder Zug, den die Natur in Diesem nur gleichsam angedeutet, war hier zur reichsten Vollendung gediehen. Er trat einen Schritt näher, berührte die Schultern Genoveva’s und sagte mit jener vollkommenen Höflichkeit, die unter Umständen der Herzlichkeit etwas abzuborgen versteht:

„Ich bitte dringend, stehen Sie auf, Mademoiselle!“

Mademoiselle! Er nannte sie abermals: Mademoiselle? Wie eine schrille Dissonanz fiel dieses Wort in Genoveva’s heiligen Schmerz. Hier galt es nicht dem Todten, sondern dem Lebenden. Die junge Frau erhob den Kopf, strich, sich besinnend, das Haar aus der Stirn und stand ihm hoch aufgerichtet gegenüber. Noch einen Augenblick blieb sie stumm, und als sie dann sprach, bebte das jäh zurückgedrängte Schluchzen noch aus ihrer Stimme:

„Sie nennen mich Mademoiselle, Herr Graf, und sagten doch zuvor, Meinhard hätte unserer Ehe erwähnt?“

„Eines Sohnes, der ihm lebte, ja! Es war dies sein letztes Wort. Das Ende kam zu rasch, als daß er Aufträge hätte hinterlassen können, doch betrachte ich solchen Auftrag als gegeben und angenommen. Sprechen Sie sich frei über Ihre Wünsche aus! Ihre und Ihres Sohnes Zukunft soll meine angelegentliche Sorge sein.“

„Ohne es zu wissen, Herr Graf, fahren Sie fort, mich schwer zu beleidigen! Schon die Andeutungen Ihres Boten ließen mich befürchten, daß Ihnen auch jetzt noch unbekannt geblieben, was Sie längst erfahren haben sollten.“ Sie hielt inne, blickte ihn mit den mächtigen Augen voll an und sagte sanft und fest: „Meinhard war mir durch den unauflöslichen Segen der Kirche verbunden. Unser Sohn ist der rechtmäßige Erbe seines Namens.“

Der alte Graf wankte. Sein Gesicht wurde todtenfahl. Mit unwillkürlicher Geberde, als wolle er einen Angriff auf sein Leben abwehren, hob er die Rechte.

„Das dürfte schwer zu beweisen sein, Gnädige.“

„Der Beweis muß sich in den Papieren finden, welche Meinhard bei sich führte,“ sagte Genoveva gelassen. „Nicht hierum handelt es sich, sondern einzig darum, ob Sie das theure Erbe, welches ich Ihnen bringe, in der Weise willkommen heißen wollen, wie das Ihrem Enkel vor Gott und der Welt gebührt.“

(Fortsetzung folgt.)




Bilder heimischer Meisen.[1]

Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
2. Das Leben der Meisen im Nadelwalde.

Der Frühling hat das Machtwort zur Vogelwelt gesprochen: löset euere im Herbste geschlossenen Gesellschaftsverbände auf, und schließet euch paarweise enger an einander an zur Gründung des abgesonderten Haushaltes und zur Theilnahme an den Freuden, Mühen und Sorgen des Familienlebens! Und das Zaubergebot wird mit dem siegenden Odem des Auferstehungskündigers hineingeweht in Thal und Schlucht, in Flur und Forst. Unter dem lösenden Zuge des Südwest hebt sich Halm und Strauch, dehnt und streckt sich der Wald dem Sonnenlichte entgegen. Auch in die Düsterkeit des Nadelwaldes dringt der verjüngende Hauch und Strahl und die befiederten Bewohner begrüßen die milde Segenskunde mit Tönen der Lust und des Entzückens. Laut und wiederholt vernehmen wir daß melodische „Zipürr“ der Haubenmeise, des Vertreters einer eigenen Untersippe unserer Meise (Lophophanes).

Die fahle, mehr oder weniger in’s Röthlichbraune spielende Farbe der Oberseite dieser Meise und die grauweiße der Unterseite


  1. Vergleiche Nr. 18.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_476.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)