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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

kühlender Flüssigkeit ein; dann knieete sie wieder minutenlang vor ihr und beobachtete, während alle im Zimmer schwiegen, in athemloser Spannung, wie allgemach die Heftigkeit des Kampfes abnahm und die Brust sich leiser hob und senkte. „Es wird besser!“

Sie wandte den Kopf nach Erich und sah ihn mit einem freudig-staunenden Blick an, worin groß geschrieben stand, daß seine Gegenwart das Wunder gewirkt habe. Der Tod war für das Kind nur ein Wort; sie kannte seine Zeichen nicht und fühlte nicht seine unverrückbare Gegenwart. Die Hoffnung kam augenblicklich, um ihre Angstthränen zu trocknen – es war ja schon schlimmer mit der Mutter gewesen und immer wieder besser geworden.

Erich neigte sich über die Frau.

„Es geht vorüber, Donna Erminia,“ sagte er herzlich, „noch eine Viertelstunde, und Sie fühlen sich wohl!“

„Es geht vorüber,“ erwiderte sie man mit einem traurigen Lächeln, „vorüber – und auf immer. … Aber ich möchte Ihnen noch Etwas sagen, … Signor Enrico … noch einen Moment … dann kann ich wieder.“

Er drückte ihr die Hand: „Schonen Sie sich!“

Ninette stand leise auf und trat zu Bartels an das letzte Fenster; sie öffnete es weit und schlug die Jalousien zurück, daß die laue Abendluft eindrang; dann lehnte sie sich, der Mutter den Rücken drehend, gegen den Flügel und berichtete leise von der großen Todesangst der letzten Stunden.

„O, Signor Giovanni, wie sie auf einmal blau im Gesicht wurde und so angstvoll rief: Luft! Luft! und dann der Husten – und Blut auf den Lippen, viel, viel mehr als sonst! Armes Herz, wie es schlug, so, wie ein Hammer! Und ich allein mit ihr, und ich wollte nicht um Hülfe schreie, damit sie nicht noch mehr erschrecken sollte. Endlich – der Madonna sei Dank! – hörte die alte Barbara das Stöhnen und mein Schluchzen, und der liebe Gott gab ihr den Gedanken ein, daß sie gleich nach Ihnen und Signor Enrico lief. Als ich Sie mit einander kommen sah, ach –“ das Uebrige brauchte sie nicht auszusprechen; es lag deutlich genug in dem hellaufglänzenden Blick der Augen, mit dem sie die Hand froh aufathmend auf den Busen legte.

„Unsinn!“ sagte Bartels mit der sauertöpfischen Miene, welche bei ihm Theilnahme und Rührung ausdrückte. „Es ist ja schon wieder vorbei.“ Dann ging er zur Kranken hin, betrachtete ernsthaft ihre entstellten Züge und sagte, wieder zu Ninette gewandt:

„Da ich übrigens einmal hier bin, sehe ich nicht ein, warum ich nicht die Nacht vollends dableiben sollte. Du kannst Dich denn dort auf dem stelzbeinigen Sopha ein bischen ausstrecken und schlafen, Kleine!“

Das pflichtgemäße Dankbarkeitslächeln, welches alle Onkels von jungen Nichten einzuheimsen gewohnt sind, schwebte einen Moment um Ninette’s frische Lippen; dann wandte sie den Kopf ein wenig, und von den dunklen, gebogenen Wimpern halb verhüllt, flog ein warmer Sehnsuchtsblick zu Erich hinüber, der dort schweigend neben der Mutter saß.

Er hielt ihren Puls zwischen seinen Fingern und sah ernsthaft und wachsam aus; er bemühte sich auch, in diesem Augenblick nur praktischer Mensch zu sein; allein während seine Blicke mechanisch dem breiten blassen Streifen Mondlicht folgten, der trotz der kleinen Nachtlampe sein Recht behauptete und auf seinem Wege vom Fenster bis in die hinteren Tiefen des Zimmers bald einen alten Sesselknauf golden aus der Dämmerung schimmern ließ, bald die Umrisse und Verschnörkelungen der bocksfüßigen, spiegellosen Trumeaux mit schwache Lichtern säumte, während er die sämmtlichen helldunklen Studien allein zu beobachten glaubte, und sich vorerst aller andern Gedanken entschlagen wollte, um ruhig zu scheinen, bebte doch unausgesetzt in seinem Herzen die fibernde Erwartung, wo ihn heute der Glockenschlag Elf finden und welche der beiden Gewalten, Liebe oder Tod, die Stunde regieren werde.

Es kostete ihn riesenhafte Ueberwindung, seine Aufregung niederzuhalten und nur der Gedanke, daß eine unabweisbare Pflicht ihn vorerst hier festhielt, gab seiner tüchtigen Natur die nöthige Ruhe und Ergebung in die Situation

„Kommen Sie näher!“

Frau Erminia richtete sich halb in die Höhe und flüsterte leise in Erich’s Ohr:

„Ich muß Ihnen noch sagen … was mir schwer auf dem Herzen liegt.“ Sie holte tief Athem und sah ihn mit flehendem Blick an. „Nina! Was soll aus ihr werden? ... Ich hatte gehofft … es solle mit mir noch ein paar Jahre dauern … nun ist es am Ende … ach!“

Sie schüttelte den Kopf mit dem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung.

„Regen Sie sich nicht auf!“ ermahnte Erich nochmals. „Und wenn es Sie beruhigen kann, so gelobe ich hier. Was mir möglich ist, werde ich für Nina thun; ich will nicht von hier weggehen bis ich sie in sicherer und guter Umgebung weiß; ich werde für ihr Wohl sorgen, so gut ich es vermag.“

Der Effect dieser Worte entsprach seiner Erwartung nicht.

„Ich werde sie unter Fremden lassen,“ seufzte die Mutter niedergeschlagen, „o das arme Kind, das an die Mutter so gewöhnt war … das nicht einen Tag lang sein kann, ohne Jemanden lieb zu haben! Ach, Signor Enrico …!“

Erich ahnte mehr; als er dachte, was die letzte Lebensangst jetzt der armen Frau auf die Lippen legen wollte, und er erhob sich rasch.

„Verlassen Sie sich auf mein Wort!“ sagte er, ihr herzlich die Hand drückend, „und jetzt ruhen Sie! Ich setze mich auch dort an’s Fenster; wenn es möglich ist, suchen Sie zu schlafen!“

Der Anfall war wirklich vorübergegangen. Eine Stunde noch saßen die Drei flüsternd am offenen Fenster, während die Kranke schlummernd lag. Ninette hatte das liebliche Haupt mit den schweren verschlungenen Flechten und den krausen braunen Stirnlöckchen auf den Arm gestützt; ihre Zähne schimmerten im Mondlicht hell durch die halbgeöffneten Lippen; die großen braunen Augen hingen unverwandt an Erich’s Angesicht; sie horchte selbstvergessen auf seine leisen, freundlichen Reden. Heute Abend war er wieder ganz der Alte, so lieb und vertraulich, wie vor Jahren, und im Gefühl ihres Glücks vergaß sie Sorge und Angst. Sie wußte freilich nicht, welches Hoffnungslicht mit der schimmernden Mondnacht zugleich in seiner Seele hell wurde und wie er den tiefen Schlaf der armen Kranken segnete.

Lange schon hatte er den ungeduldig nach der Westentasche zuckenden Fingern Gewalt angethan; nun endlich konnte die Uhr einmal gezogen werden. Zehn vorüber! Er stand leise auf.

„Ich gehe jetzt,“ sagte er, „da ich Ihnen nichts mehr helfen kann, Nina. In zwei Stunden komme ich wieder, um nachzusehen. Gute Nacht bis dahin!“

Er schüttelte ihr cameradschaftlich und mit dem warmen Blicke die Hand, der ihm so natürlich und einem unerfahrenen Herzen so gefährlich war.

„Ich bleibe hier,“ knurrte Bartels.

„Desto besser!“ dachte Erich erleichtert.

Nina stand einen Moment mit gesenkten Wimpern, während eine leise Röthe über ihr bräunliches Gesichtchen zog. Es war so viel rhythmische Schönheit in dieser sanften Beugung des Kopfes und dem Linienfluß der ganzen feingebauten Gestalt, daß Erich einen Moment überrascht auf sie hinsah. Doch da schlugen sich auch schon wieder die großen braunen Kinderaugen zutraulich auf und sie sagte weich und lächelnd:

„Tausendmal Dank, Signor Enrico – gute Nacht!“

„Glückseliges Omen!“ sagte er zu sich selbst.

Er trat in die laue Nacht hinaus, und ihr Balsamduft legte sich ihm berauschend um Kopf und Sinne. Er hob schweigend die Arme nach dem leuchtenden Firmament empor, und ein Strom von plötzlichem Entzücken überfluthete sein Herz, das er so lange in strenger Zucht gehalten. Er war wie im Traume: die nahe, sichere Gewißheit des Glückes nach so viel bebenden Angstgedanken und diese heftige Erregung erfüllten ihn mit einer so neuen Seligkeit, daß er nicht begriff, wie er früher ohne diese Empfindungen hatte glücklich sein können.

Er mußte sich gewaltsam fassen, um das Nächste zu überlegen. Dort war das Pförtchen, in dessen Nähe er sich zu halten hatte, bis Antonio das Zeichen gab; von dort führte der dunkle Lorbeergang nach seinem Atelier. Würde Sie ihm wohl dahin folgen, wo sie eine Stunde in ungestörter Sicherheit beisammen sein konnten, oder kam sie nur, ihn mit der Gondel zu holen? Wie er jetzt die Thür des hohen, stillen Raumes aufschloß und sein Blick über den mondhellen Estrich nach der tiefen Nische flog, wo im Dämmerlicht unter Brocatdraperien ein höchst anmuthiger

Phantasiewinkel mit antiken Stühlen und einem großen, schwerfüßigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_486.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)