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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

einen heiligen Krieg entfachen, die grüne Fahne des Propheten entrollen werdet, und erzählt ein Wenig, was es Neues von der Familie dieses und jenes Großen zu berichten giebt! Nachmittags sind die Bazare geschlossen – da gehen wir lieber zur Fortsetzung der Plauderei in ein Café, wo wir Bekannte zu finden wissen, die inzwischen wieder Neuigkeiten gesammelt haben.

In Algerien äfft man Frankreich nach. Wenden wir uns also lieber gleich dem Vorbild zu! Hier kommen wir in den Bereich des Boulevardcafé, in dem die Wirkungen des orientalischen Getränkes noch durch entsprechende Quantitäten Absinth und Cognac unterstützt werden müssen, um die nöthige Dosis Esprit zu weltmännischem Klatsch zu verleihen. Wehe dem, der in den Mund der Habitués der Boulevardcafés geräth! Da bleibt auch nicht einmal ein Fäserchen der Gewandung unbekrittelt, unbewitzelt und unzerpflückt. Je höher die Civilisation, desto boshafter, desto gemeiner, desto widerlicher der Klatsch – so scheint das Gesetz zu sein. In den großen Städten sind es freilich dafür auch nur die Großen, die der Fama verfallen, aber was müssen sie und oft vollkommen unschuldig erdulden! Dem Esprit des Pariser Flaneurs und Salonhelden ist nichts heilig, nichts zu klein, nichts zu groß – wo nur ein Häkchen ist, und wo ließe sich nicht eines finden! – da wird auch etwas angehängt, und das Gewicht wird binnen Kurzem so groß, daß der Gegenstand bald in den Staub sinkt und endlich im Schmutz begraben wird. Und welcher Art ist die Sprache dieser Elegants, die der civilisirten Welt als Musterbilder vollendeter Weltmänner dienen, welcher Art sind die Witze, ist der Esprit, den sie bekunden? – Passons!

Wenden wir uns nach England. Always gentlemanlike! – Nichts merken lassen! Scherzen, plaudern, witzeln, das kommt dort nie vor; nein, seht nur diesen Ernst, diese Gemessenheit! Ueber diese Lippen kann im Leben kein häßliches Wort kommen – und vollends der Jargon des Männerklatsches! – undenkbar, daß ein feiner Gentleman denselben je anwendete. Ja wohl, ganz recht! Kommt nur in einen Club von recht feinen, recht hohen Gentlemen! Da „sind wir unter uns“; da sieht man die Kehrseite der Medaille, und man wird seinen Ohren kaum trauen, wenn man hört, was dort bei Malagasect, Capwein und Porto gesprochen wird.

Und der biedere Deutsche? Was so ein guter deutscher Bürger und Hausvater ist, der muß Abends in’s Wirthshaus gehen, und wenn er sein Töpfchen Bier vor sich und die Cigarre oder das Pfeifchen angezündet hat und die Stammtischgenossen beisammen sind – dann wird’s gemüthlich, dann wird große Politik getrieben, gekalauert und geklatscht – und darin sind sie Alle gleich nach dem Satze: Hier bin ich Mensch; hier darf ich’s sein.





Ungleiche Seelen.

Novelle voll R. Artaria.
(Fortsetzung u. Schluß.)


6.

Es ist drei Jahre später, im Herbst 1878. Auf der großen Terrasse des Hotels *** zu Brunnen am Vierwaldstätter See bewegt sich der lebhafte, bunte Zusammenfluß von Eleganz und Müßiggang, welcher hier alljährlich sein ebenso heiteres, wie trügerisches Bild vom allgemeinen Wohlbefinden der Menschheit entfaltet. Es ist Frühstücksstunde und laute Conversation an den vielen kleinen, zierlich gedeckten Tischen; da sitzen im eleganten Morgencostüm junge Mütter, deren Leben noch keine andere Sorge kennt, als die um die möglichst graziöse Toilette für die künftigen kleinen Gesellschaftsmenschen, welche dort am Landungssteg ihren Fischfang mit einer eigentümlichen Mischung von natürlicher Unart und selbstbewußtem Weltton betreiben. Auf den Gesichtern der meisten Männer kann man jenen frühalten, nervösen Zug nicht verkennen, welchen das heutige eilige Tempo des Hastens nach Reichthum und Genuß dem modernen Menschen nicht gerade zu seiner Verschönerung auszudrücken pflegt; im Uebrigen fühlen sich Alle offenbar sehr erleichtert, für einige Wochen die juristischen, commerciellen und sonstigen Leitungsdrähte von der Hirnbatterie abgeschraubt zu haben und sich hier einmal gründlich ausspannen zu können. Bei dem appetitlichen Schweizerfrühstück sitzend, lesen sie ihre großen Zeitungen und betrachten hinter ihnen heraus die von Duft und Glanz eines wunderbaren Septembermorgens verklärten stillen Berge, die blauschattigen Wandhänge über dem leuchtend grünen Seespiegel mit dem fremden Blick des Stadteingesessenen, der den Zusammenhang mit der Natur verloren hat und nur aus dem Umweg der Operndecoration zu ihren hervorragendsten Knalleffecten zurückzukehren vermag.

Es ist viel Redens und Berathschlagens auf der Terrasse; alle Möglichkeiten, in kurzer und kürzester Frist die gesammten Schönheiten des Rigigebietes „abzumachen“, werden aus den rothen Büchern construirt und Hotelrechnungen verglichen; dazwischen richten sich, da auch am Vierwaldstätter See „der Mensch dem Menschen das Interessanteste bleibt“, viele neugierige Blicke nach einem Tische, nahe der Terrassenbrüstung, wo eine Dame von ungewöhnlicher Schönheit und derjenigen Eleganz der Gewänder, welche durch Reichthum allein nicht zu bewerkstelligen ist, auch die Blicke solcher Mitschwestern auf sich zieht, die nicht gewohnt sind, auf der heimischen Promenade einer distinguirten Toilette die Ehre besonderer Betrachtung zu gönnen.

Wer ist sie? Gestern hieß es, eine russische Fürstin; heute weiß man, daß sie die Gattin einer der ersten Finanzgrößen der reichen Stadt F… ist und daß diese Größe in Gestalt des mageren ältlichen Herrn mit dem Zwicker auf der Nase dort unter dem Schattendache ihr gegenüber am Tische sitzt.

Bei gewöhnlichen Sterblichen müßte man, dem Ausdrucke der Gesichter nach, auf ein ungewöhnliches Maß von Langeweile schließen, hier aber ist es leicht, zu denken, daß nur eine gewisse, durch die nahe Nachbarschaft der anderen Tische gebotene Zurückhaltung die Ursache der kurzen und seltenen Reden ist, welche das ungleiche Paar in den Pausen zwischen Frühstück und Lectüre von Briefen und Zeitungen mit einander wechselt.

Herr Nordstetter scheint, geschäftlich und menschlich genommen, der Gleiche wie ehemals, nur daß er sich das unbequeme Färben der Haare jetzt erspart und in Folge dessen bedeutend grau aussieht. Im Uebrigen trägt sein Gesicht denselben Ausdruck positiver Nüchternheit und ruhigen Selbstgefühls, den es hatte, ehe die Liebe für kurze Zeit einige Pinselzüge hineinmalte: es ist klar, daß man an der Seite dieses Mannes keinerlei Gelegenheit zu tragischer Empfindungen hat.

Tragisch sieht sie auch nicht aus, die immer noch außerordentlich schöne Frau mit den blauen, schwarzumsäumten Augen und den blassen, vornehm geschnittenen Zügen, aber müde, sehr müde, und wenn man näher zusieht, gewahrt man auch ein paar Fältchen unter diesen Augen und eine senkrechte zwischen den feingezogenen Brauen.

Sie sitzt regungslos zurückgelehnt und ihre Blicke streifen ohne Antheil über die Terrasse voll Menschen hin, über den See und die morgenduftigen Wälder und Felsschroffen des jenseitigen Ufers – sie ist offenbar in Gedanken weit weg von alledem und auch weit von dem Zeitungsblatt, das ihre Hand noch immer mechanisch festhält. Nun legt sie das Blatt nieder, nimmt ein elfenbeingefaßtes Opernglas vom Tisch und richtet es auf das Dampfschiff, welches soeben am Eingange der Bucht erscheint und mit eiligen Schaufelrädern der nahen Landungsstelle zustrebt. Plötzlich zuckt sie heftig zusammen, wirft einen raschen Blick auf ihren Gatten, dessen Seele tief in die Schwierigkeiten der bosnischen Occupation versenkt ist, und führt das Glas wieder zu den Augen.

Ihr Gesicht erscheint noch um ein gutes Theil blässer geworden, als sie jetzt das Glas wieder hinlegt. Einen Augenblick noch – dann erhebt sie sich und sagt, indem sie leise mit dem Finger auf Nordstetter’s Zeitung tippt:

„Ich gehe jetzt hinauf, mich anzukleiden.“

Au revoir,“ murmelt er, völlig von den österreichischen Calamitäten erfüllt, und sieht auch ferner nicht auf, bis das Rauschen des anlandenden Schiffes und die Signalglocke in nächster Nähe ertönen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_495.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)