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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Dann begiebt er sich gemächlich ein paar Schritte vorwärts und mustert ohne besondere Neugier den bunten Strom der Reisenden, welche von der Brücke her in den Garten eindringen. Plötzlich aber nehmen seine Züge einen überraschten und erstaunten Ausdruck an, als unter den vielen fremden Gesichtern ein wohlbekanntes auftaucht: scharf geschnittene Züge, ein blonder Vollbart und zwei rastlose blaue Augen, die sich eben mit einer raschen Frage an ein anderes dunkles Augenpaar wenden, welches aus dem allerliebsten, braunhaarigen Gesichtchen einer schlanken, jungen Frau freundlich emporsieht. Herr Nordstetter rückt hastig den Zwicker zurecht, um genau zu sehen, ob das kleine, in Stickereien halb verhüllte Wesen auf den Armen einer kräftigen Frauensperson zu dem Paare gehöre oder nicht.

Ja, ohne allen Zweifel. Die junge Mutter wendet sich, gleich nachdem der enge Durchgang passirt ist, als hätte sie es Jahre lang nicht gesehen, liebkosend nach dem Kindchen um, während ihr Gatte in die notwendigen Verhandlungen mit dem Oberkellner eintritt.

Herr Nordstetter geht wieder nach seinen Zeitungen zurück, nicht ohne vorher noch einen bezeichnenden Blick nach dem Fenster seiner Gattin emporzuwerfen. Die Tüllgardinen sind zugezogen.

„Schade,“ sagt er malitiös lächelnd zu sich selbst, „das sollte sie gesehen haben. Sie hätte doch wohl Augen gemacht.“

Größere zwar wohl schwerlich, als Herr Nordstetter selbst, wenn es ihm möglich gewesen wäre, einen Blick hinter diese geschlossenen Gardinen zu werfen. Da steht seine Frau und starrt unbeweglich durch den klaren Stoff auf die Gruppe im Garten hinunter. Rings um sie liegt der raffinirteste Luxus in Gestalt von gestickten und gefältelten, parfürmirten und banddurchzogenen Morgenkleidern, kostbaren Juchten-Etuis und silbernen Toilettegeräthschaften mit allen erdenklichen Essenzen von den Händen ihrer Zofe ausgebreitet, aber die Eigentümerin all dieser weichen duftenden Ueppigkeit hat keinen Blick dafür; die Hand hat sie auf’s Herz gepreßt, das nach langem Scheintode zu plötzlicher Qual erwacht, und ihre Lippen flüstern scheu und tonlos:

„Erich – er ist es. Er ist glücklich. Und ich und ich!?“

Sie sinkt auf den Stuhl zusammen und bedeckt ihr Angesicht mit beiden Händen. – –

Noch einige Stunden, und die unvermeidliche Erkennungsscene bei Tisch war überstanden. Wohl war Erich einen Moment zusammengezuckt, als er unter der offenen Thür des Speisesaales plötzlich den nie vergessenen Umriß einer schlanken, schwebenden Gestalt gewahrte, die mit keiner anderen zu verwechseln war. Doch faßte er sich rasch und sah ruhigen Blickes, wie sie mit der ihr eigenen aristokratischen Unbefangenheit, die ein Ignoriren aller Uebrigen schien, näher kam, so gleichgültig gegen die vielen neugierigen Augen, welche die Details ihrer kostbaren, blaßgelben Toilette musterten, wie gegen die in einer langen Schleppe hinter ihr rauschenden Wellen von Spitze und matter Seide. Sie hatte den Arm in den ihres Gemahls gelegt und wandte ihm, ruhig sprechend, das Gesicht zu, sodaß die Anwesenden nur den Anblick ihrer tadellosen Profillinie hatten.

Dann kam der unausbleibliche Moment. Die Ueberraschung nahm sich glaubhaft aus, und Gruß und Vorstellung wurden mit ausgezeichneter Höflichkeit gewechselt.

Dabei fiel ein kurzer Blick Erich’s auf Leontine, und sie hatte ihre ganze Selbstbeherrschung nöthig, um die schneidende Kälte dieser stahlblauen und stahlscharfen Augen mit Ueberlegenheit von sich abgleiten zu lassen.

Nun wußte sie es sicher: er war ihr für immer verloren, und die lebendige Ueberzeugung dieser Thatsache verursachte ihr ungeahnte Qualen. Der alte Zauber wirkte mächtig, wie nur je zuvor; wieder stand der kühne, jugendschöne Mann vor ihr, für ihr Empfinden die Verkörperung von Allem, was herrlich und begehrungswürdig ist, als der Siegreiche, der sich die Welt dienstbar macht und in Freiheit und Glück seine eigenen Wege schreitet; sie sah den Abstand von solchem Reichthume zu ihrer eigenen vergoldeten, armseligen Existenz, und ein Gefühl bitterer Reue preßte ihr das Herz zusammen.

Zu spät! Ihre Macht über ihn war erloschen, und an seinem Arme hing eine Fremde mit weichen Kinderzügen und unschuldigen Rehaugen – seine Frau!

Kühl und zurückhaltend fielen die üblichen Redensarten von ihren Lippen, und auch Ninette’s Gegengruß – denn keine Andere war es, die an Erich’s Seite schritt – kam aus schwerem Herzen; sie hatte die Zauberin wohl erkannt, die dermaleinstens ihren lieben Mann in so festen Banden gehalten, und sie zitterte im tiefsten Herzen vor der nächsten Stunde. Erich sah den Wolkenschatten über ihre reinen Züge gleiten und drückte ihren Arm noch einen Augenblick gegen seine Brust.

Dann setzte man sich zu Tisch, und wäre nicht der ahnungslose Nordstetter gewesen, der mit behaglicher Satisfaction den gegenwärtigen Stand der Dinge betrachtete und sich sehr liebenswürdig gegen die Frau seines einstigen Nebenbuhlers benahm, so würden es wohl die anderen Betheiligten zu schwer gefunden haben, die große gesellschaftliche Lüge ruhiger Unterhaltung bei erregtem Innern auch nur eine Stunde lang durchzuführen. Aber so konnte Erich nicht umhin, die teilnehmend-neugierigen Fragen des Banquiers zu beantworten und, wenn auch in kürzester Fassung, von seinem Lebensgange in den verfloßenen Jahren zu erzählen: er war berühmt geworden und glücklich. Glücklich? Leontine wagte noch daran zu zweifeln, und dieser Zweifel war ihr plötzlich etwas wie ein Lebensbedürfnis. Eine Frau kann niemals glauben, daß eine Andere so geliebt sei, als sie einstmals selbst. Leontine hielt den Zweifel daran mit allen Kräften fest. Sie wußte ja so gut, was es auf sich hat mit Schein und Sein und wie es innen aussehen kann, wenn außen gelächelt wird.

„Bleiben Sie einige Zeit hier?“ fragte Nordstetter jetzt von Neuem.

„Nein,“ erwiderte Erich, „wir sind blos Passanten; ich will meiner Frau die Schweiz zeigen, welche sie noch nicht kennt; dann halten wir uns noch etwas in Rom auf und gehen für den Winter nach Aegypten. Ich muß für ein großes Bild dort Studien machen und freue mich unbeschreiblich auf diesen completen Scenenwechsel. Was man in Europa südlichen Charakter nennt, ist doch höchst eintönig und civilisirt gegen die unglaubliche Buntheit jenes Lebens.“

„Und das Baby geht auch mit?“

„Versteht sich! Das ist ja die eigentliche Hauptperson der Familie,“ versetzte Erich heiter, „und für Damen und Kinder ist dort vorzüglich gesorgt.

„Nun, das ist ja sehr interessant,“ sagte Nordstetter mit einer gewissen Hochachtung. Er fühlte dunkel, daß es hienieden noch eine andere Art von großem Lebensgenuß geben möge, als Geld machen und Geld verzehren, und daß diese Art möglicher Weise sehr amüsant sei. Er würde, wenn es allein auf ihn angekommen wäre, sich gern diesem jungen Paare auf ein paar Tage angeschlossen haben, aber ein Blick auf die feindlichen Brauen seiner Gattin belehrte ihn, daß es Zeit zum Aufbruche sei.

Schon standen einzelne Gruppen von Herren rauchend auf der Terrasse draußen; die Kellner eilten mit Geschirr und Kaffeetassen im Saale hin und wieder, und einzelne Sonnenstrahlen fielen durch die Ritzen der gesenkten Jalousien und spielten mit hellen Streifen über das damastene Tafeltuch und die angebrochenen Fruchtpyramiden des Desserts; es schien äußerst behaglich in diesem braungetäfelten, halb familienhaften, halb hotelmäßigen Raume oder draußen unter dem linnenen Zeltdach, wo ein Stück wundervoller Welt vor den Blicken ausgebreitet lag und die herzerquickende Septemberluft voll Sonnenschein und Resededuft über die blühenden Beete strömte. Aber die vier Menschen am oberen Tafelende hatten es eilig, von einander zu scheiden, und die Abschiedsverbeugungen waren sehr ceremoniell.

„So, Liebchen,“ sagte Erich, noch ehe das Paar außer Hörweite war, „nun gehören wir uns wieder selbst; jetzt wollen wir einen Kahn nehmen und hinüber nach jener schattigen Bucht fahren; dort sehe ich schon die ganze Zeit einen Wiesenweg in den Wald hineinführen, den ich mir außerordentlich reizend vorstelle. Dort müssen wir heute noch wandern.“

Auf der Saalschwelle drehte Leontine den Kopf. Sie sah eben, wie Erich den Arm um sein junges Weib legte und sie fröhlich mit sich aus die Terrasse hinauszog.

„Was hast Du?“ fragte Nordstetter und wandte sich ebenfalls.

„Nichts,“ erwiderte sie, „ich dachte, mein Fächer liege dort, aber ich erinnere mich eben, ihn gar nicht mitgenommen zu haben.“

* * * 

Das menschliche Leben besteht in Ausgleichungen, und wer nicht so glücklich ist, durch tägliche kleine Abschlagszahlungen die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_496.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)