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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

zu berauschen; die Lehrer wurden von den Schülern verlästert: der „verfaulte Westen“ wurde zum Gegenstand nationaler Verachtung gemacht, die fremde Cultur, welche seit zwei Jahrhunderten und darüber die oberen Schichten der russischen Gesellschaft gesittigt und „europäisirt“ hatte, für einen lästigen Eindringling erklärt, dessen Spuren von Grund aus getilgt werden müßten.

Das ist die nationale Wurzel des Nihilismus, welche er mit dem Panslavismus und dem sogenannten Altrussenthum gemein hat. Aus ihr entkeimt naturgemäß nicht blos die Oberflächlichkeit in Wissen und Denken, nicht blos die Selbstüberhebung, welche sich selbst genug sein zu können glaubt, sondern auch der Haß gegen die deutsche Dynastie, gegen Alles, was geordnete Entwickelung im Staate ist, gegen Kunst und Wissenschaft, welche den Menschen zur vornehmsten Lebensführung erziehen, gegen die Geschichte endlich, deren Lehren mehr auf eine erhaltende, als aus eine umstürzende Weltanschauung hinleiten. Der flaumbärtige Nihilist, die Nihilistin, welche sich von allen Banden der Sitte und des Familienlebens losgelöst hat, dünken sich stark und reif genug, nicht blos die Staatsordnung zu zerstören, sondern der gesammten Weltordnung den Krieg zu machen; sie jagen nach einem Martyrium, das keines ist; die Wollust der Rache, der Grausamkeit, der Tollkühnheit wird ihnen zur Inspiration; ein begreifliches Gefühl des Mißvergnügens wandelt sich in die Leidenschaft der Zerstörung, wobei jedes Mittel als das rechte erscheint.

Es ist indessen nur die Form der Revolution, welche sich aus der nationalen Beschaffenheit der Russen erklärt. Wie man auch ohne völkerpsychologische Tüftelei genau die unterscheidenden Merkmale zu finden vermag zwischen der Methode, welche der Engländer bei seiner großen Revolution gegen die Stuarts, und derjenigen, welche der Franzose bei der seinigen gegen die Bourbonen befolgte, so kann man auch mit Gewißheit sagen, daß nur in Rußland die nihilistische Bewegung möglich war mit diesen raffinirten Schrecken, diesen Orgien zügelloser Grausamkeit, dieser unerhörten Heimlichkeit, welche einen Bund von tausend Menschen stärker macht, als einen Staat mit einer Million von Bajonneten, dieser genialen Aneignung naturwissenschaftlicher Mittel zu mörderischen Zwecken.

Tiefer hinein in die Erkenntniß der russischen Revolution führt die historische Betrachtung.

Seit wann existiren der Name und die Sache des Nihilismus? Wie Alles wunderlich an dieser räthselhaften Erscheinung ist, so auch die Antwort auf diese Frage; denn der Name ist älter als die Sache; er findet sich schon in periodischen russischen Schriften vom Jahre 1831, und zwar nahezu in demselben Sinne, welcher ihm heute zukommt. Vom Nihilismus hat man in der Philosophie schon vorher gesprochen und als eine Form philosophischer Anschauung geht dieser Begriff schon auf das „Nil admirari“ des Horaz zurück; allein in seiner Anwendung auf das politische und sociale Leben ist der Begriff des Nihilismus von specifisch russischer Herkunft. Nur ward im Jahre 1881 ein anderes seiner Merkmale betont als heute. Der Czarenautokratie gegenüber waren bereits mancherlei Palastrevolutionen und Militärcomplote ohnmächtig geblieben. Kaiser Paul war von adeligen Hofleuten erdrosselt worden; von Alexander dem Ersten raunte man sich zu, er sei beim Baden in Taganrog gewaltsam in die Wellen hinabgetaucht worden. Czar Nikolaus hatte den Aufstand der Decembristen blutig erstickt, und die große Insurrection der Polen war unbarmherzig niedergeworfen worden. Da ergab sich denn Alles, was in Rußland der Autokratie des Czaren feindlich gegenüberstand, der Resignation. Man fand sich in das Schicksal der Sclaverei; Puschkin selbst zerbrach die Feder, mit welcher er vordem Gedichte auf die Freiheit geschrieben hatte, um fortan die Gunst des Czaren und dessen persönliche Controlle zu ertragen. Die Autokratie behielt das Heft in den Händen, und alle Versuche, sie abzuschütteln, waren vergebens. Man hoffte nichts mehr; man wollte nichts (nihil) mehr. Das war der Nihilismus von damals. Und er hatte seine Zeit etwa zwanzig Jahre lang. Da tauchte der Kritiker Belinsky zuerst in Moskau, dann in Petersburg auf, um, ein „russischer Lessing“, eine Schule von jungen Literaten um sich zu schaaren und bisher heilig gehaltene Begriffe in Kunst, Dichtung und Wissenschaft zu stürzen, sie durch neue zu ersetzen. Belinsky wies über die chinesische Mauer hinweg, mit welcher das autokratische Rußland umgeben war, nach Deutschland, dessen große Philosophen er studirt hatte. Einer von den revolutionären Sätzen, die er predigte, lockerte besonders kühn das Band der Bevormundung; Belinsky behauptete nämlich, das russische Volk habe keinen Sinn für die Religion. Von nun an war der Nihilismus als Zeichen der Resignation und Fügsamkeit überwunden; es konnte sich nur noch darum handeln, was an seine Stelle treten sollte. Ein schüchterner Versuch, sociale Umwälzungen herbeizuführen, von einem Staatsrathe Petraschewski und etwa dreißig Genossen geplant, scheiterte: die Neuerer wurden allesammt nach Sibirien „verschickt“.

Ein gleiches Schicksal oder mindestens das Loos der Verbannung in’s Ausland traf Alle, welche in Wort, Schrift oder Lebensführung einer freieren Denkweise verdächtig waren. Bakunin, Herzen, Turgenjew mußten in’s Exil, und des Czars „höchsteigene dritte Kanzelley“, die berüchtigte dritte Abtheilung, deren „hellblaue“ Gensd’armen überall in dem weiten Reiche umherspionirten, verstand nicht blos Schuldige zu finden, sondern auch Schuldige zu machen. Die Wege nach Sibiren waren gleichsam besäet von Zügen Deportirter, hinter welchen der Kantschu des Kosaken sauste, nachdem die „dritte Abtheilung“ sich ihrer ohne richterlichen Spruch und ohne Untersuchung, zumeist auf die Denunciation der „Hellblauen“ hin, bemächtigt hatte.

Dabei ging etwas dem russischen Volke verloren, was anderswo als das heiligste menschliche Besitzthum gilt: das Recht der Persönlichkeit, die Individualität. Wer im Namen des Czars eines Amtes waltete – und mochte er auch das feilste Subject sein – war der Herr; alle Uebrigen waren Sclaven. Und auch, es gab vierzehn Rangclassen des Beamtenthums, des Tschin, vierzehn Schichten, welche unbarmherzig aufsaugten, was das Volk im Schweiße seines Angesichts erwarb. Ein Appell, eine Reclamation galt nur so viel, wie ihr Urheber an Bestechung zu ihrem Nachdrucke aufzuwenden hatte. In dieser Rechtsunsicherheit seufzte die gesammte Nation: „Der Himmel ist hoch, und der Czar ist weit.“

Einem solchen Zustande konnte nur durch Ereignisse von außen her gesteuert werden, und als der Czar Nikolaus, besiegt und gedemüthigt in den Niederlagen des Krimkrieges, zusammenbrach, um den Platz auf dem Throne seinem Sohne Alexander zu räumen, schien es in der That, daß ein besserer Tag für Rußland angebrochen sei. Damals gründete Alexander Herzen in London sein berühmtes Blatt „Die Glocke“, in welchem mit unerbittlicher Schärfe alle russischen Mißstände ausgedeckt wurden.

Die Palastcreaturen, welche den neuen Czar umgaben, thaten alles Mögliche, damit dieses Blatt nicht unter die Augen ihres Herrn komme, aber alle Verbote und Confiscationen blieben fruchtlos. Der Czar fand dennoch jede neue Nummer der „Glocke“ in seinem Gemache, ohne daß Jemand zu sagen wußte, wie sie dorthin gelangt sei. Ob nun Herzen’s Mahnungen oder andere Impulse es waren, welche den Czar bestimmten, neue Bahnen einzuschlagen, gleichviel, es geschah ein Schritt von großartiger reformatorischer Bedeutung: die Befreiung der Leibeigenen. Schade nur, daß er nicht sorgsam genug vorbereitet war und daß die Bahn, auf welche er führte, nicht festgehalten wurde. Der Muschik, dieser arme, unwissende, an dumpfes Dahinleben gewöhnte Bauer, war frei; er empfing auch einiges Land. Aber man nahm ihm Steuern ab, welche zwei Drittel seines Einkommens aufzehrten, und gab ihm nicht neue ehrliche Beamte zum Schutze auf dem Pfade, auf dem er wie ein Halbblinder in die Freiheit hineintaumeln sollte, sondern die nichtswürdigen Tschinowniks von ehedem blieben in ihren Aemtern und saugten an der Habe und dem Erwerb des Volkes. Das war die eine verhängnißvolle Lücke in der Reform, aber die andere war noch empfindlicher.

Das Recht der Persönlichkeit ward nicht gesetzlich verbürgt, das System der „administrativen Verschickung“ nicht beseitigt. Zwar auf dem Papier wurden noch manche Justiz- und Verwaltungsreformen entworfen, aber das Beamtenthum blieb ungesäubert. So lange aber der Tschinownik nicht zum Menschen umgewandelt, der Bestechlichkeit, der Brutalität, der Lüderlichkeit entwöhnt war, so lange mußte jede Reform im Reiche des Czaren ein frommer Wunsch sein. Wenn zwischen Staat und Gesellschaft, welche zusammengehören wie zwei verschiedene Erscheinungsformen desselben Inhaltes, nicht ein unnatürlicher Gegensatz entstehen soll, so muß der Staat der Gesellschaft mit dem Beispiele der Pflichterfüllung und des ernsten Bewußtseins der Verantwortlichkeit voranleuchten. In Rußland bot der Staat das entgegengesetzte Bild.

Die Gesellschaft ward durch ihn und seine Vertreter corumpirt. Und so konnte es geschehen, daß fast gleichzeitig mit der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_512.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)