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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

von sich selber weiß. Da unterbricht irgend ein Laut den Schlaf und Traum, und nun kann ihm geschehen, daß es in grundlose Tiefen sinkt, so tief wie der Tod, aus dem man nicht mehr erwacht. Etwas von den Schauern des Todes lag für Richard Fügen im Erkennen der Macht, welche längst Besitz von ihm genommen, ohne daß er davon wußte. Er wehrte sich heftig gegen den Bann, wie er sich von je gegen jeden Druck, jede Unfreiheit gewehrt. Nie hatte er sich auch nur zu einer Berufsfessel entschließen mögen, und doch bleibt, wenn man solche Fessel trägt, bei äußerlicher Abhängigkeit die Seele frei, die Liebe aber macht sie zum Sclaven. Liebe zu dieser Frau drohte Schlimmeres noch; denn in demselben Moment, als er sich der übermächtigen Gewalt bewußt wurde, sagte er sich auch, wie gänzlich hoffnungslos diese Leidenschaft sei. Nichts spricht eine so furchtbare deutliche Sprache, wie Gleichgültigkeit. Und – hätte er das Gegentheil auch nur wünschen mögen? Nein, tausendmal nein! Was ihn hier bezwang, widersprach Allem, was ihn jemals angezogen. In Kunst und Leben erkannt er nur eine Göttin an: Harmonie. Was auch Genoveva besaß, harmonisch war sie nicht. Er liebte alles Helle, und was konnte dunkler sein, als diese Gestalt, dunkel freilich wie eine gestirnte Nacht –?

Oft hatte er sie gütig gesehen, freundlich nie; immer blieb zwischen ihr und Denen, welchen sie Güte erwies, eine unsichtbare Grenze bestehen. Was er lange an ihr bewundert, das stolze Maß ihrer Erscheinung, war nur eine Hülle – keine Maske; denn es gehörte untrennbar zu ihrer Vornehmheit, die sich nie verleugnete; er wußte nun aber, daß leidenschaftliches Wollen und Bedürfen dieser Hülle Kern sei. Was wollte, was bedurfte sie? Dem grübelte er selbst in diesem Tumulte seiner Gedanken nach, ohne etwas ergrübeln zu können, das auch nur den Schimmer von Wahrscheinlichkeit bot. Das Geheimniß dieses Lebens brannte ihm jetzt in’s Herz. Aus manchem Worte Jana’s wußte er, daß Genoveva’s kurze Ehe eine glückliche, daß sie eine Liebesehe gewesen sei. Lag hier der Knoten des Räthsels? Hatte sie, was der Tod so früh hinweggenommen, zuvor schon durch das Leben verloren? Das hätte wenigstens die Bitterkeit erklärt, welche zuweilen so herb zu Tage trat, hätte erklärt, weshalb sie nimmer rückwärts zu schauen begehrt, nur vorwärts. Träumende, Liebende fliehen nicht, was vergangen; sie hegen es als letzten Besitz.

Er zog die Hand von seinen brennenden Augen hinweg und schlug Genoveva’s Mappe auf. Als wollte er aus deren Inhalt die ihm unbekannte Seele herauslesen, so tief versenkte er die seinige hinein. Und wahrlich, es kam ihm vor, als hätte dieses Weib zwei Seelen. Während er Blatt nach Blatt wandte, ging die eine Seele, welche ihn so sehr befremdet und doch bezwungen, fort aus seiner Erinnerung; eine andere war an ihre Stelle getreten, die er nicht kannte, die ihn mit sympathischem Blicke ansah, zu Allem, was weich und warm in ihm war, wie mit Glockentönen sprach. Wenige, tieferschütternde Klagelaute zwischen Liebes- und Wiegenliedern – kunstlosen Liedern, oft zart wie ein Hauch, reinsten Klanges, nur hin und wieder leidenschaftlich durchglüht, alle wahr, wie das Lächeln und die Thränen der Einsamkeit wahr sind.

So viel Sonnenschein hatte also dieses Herz erfüllt? – und heute! – Die Stunden der Nacht folgten sich; der Träumer merkte es nicht. Plötzlich stand er auf, verließ sein Schlafgemach und öffnete im daranstoßenden Musikzimmer den Flügel. Die Lampe warf ihren matten Schein nur bis auf die Schwelle. Im Dunkeln reihten sich Accord an Accord, während die Lippen ein Thema murmelten. Der Meister componirte. Es war aber keines der zarten gemüthstiefen Lieder, die ihn so sehr entzückt hatten, welches sich ihm zu Tönen gestaltete – er componirte das Lied vom Gewitter, welches der alte Graf Riedegg in der Brusttasche seines todten Sohnes gefunden.




12.

„Sie bekommen Besuch,“ sagte Fügen, der am Fenster. stand und in den kühlen Märztag hinaus schaut. „Ein Wagen! der bald oben sein wird!“

„Heute schon?“ erwiderte Genoveva, ohne sich zu erheben.

„Sie erwarten also Jemand!“ rief der Musiker bestürzt. „Wohl gar Logirbesuch, und für längere Zeit?“

„Nicht so schlimm! Es handelt sich nur um einen Passanten. dessen Vorsprechen im Laufe dieser Tage mir allerdings brieflich gemeldet worden ist. Ich gab im vorigen Jahre einem Wiener Agenten Auftrag wegen Vermiethung der Moosburg und habe versäumt, das zurückzunehmen. Wie es scheint, sucht ein Fremder jetzt dergleichen und will sich, da ihn sein Weg nach Süden führt, die Gelegenheit ansehen. Namen nennen ihn nicht – der Geschäftsmann schreibt mir von einem vornehmen Ausländer, der auf das ganze Haus und für den ganzen nächsten Sommer reflectiren würde. Dies wäre im vorigen Jahre erwünscht gewesen, nun habe ich mich aber hier eingelebt und zunächst durchaus keine Lust, mich in einer Stadt niederzulassen. So handelt es sich für den Herrn also um eine überflüssige Fahrt, für welche ihn unsere Aussicht entschädigen muß. Du sorgst wohl für eine passende Erfrischung, liebe Jana?“

„Und ich entrinne,“ sagte Fügen eilig. „Ein fremdes Gesicht hier auf der Moosburg kommt mir schon von Weitem vor wie eine Dissonanz. Sie brauchen mich ja nicht – also ade!“

Ehe die Hausfrau noch zu einer Entgegnung Zeit gefunden, befand er sich bereits auf der Flucht nach seinen Zimmern. Genoveva trat an das Fenster, welches Ausblick nach dem Fahrwege bot, der sich, selten benützt, in leichter Krümmung hügelaufwärts zog. Die langsam näher kommende geschlossene Kalesche war offenbar kein mit Extrapostpferden bespannter Privatwagen, sondern stammte aus der Lahnegger Posthalterei. Das Lächeln, mit dem Genoveva beim Anblick dieser höchst bürgerlichen Auffahrt des gemeldeten „Vornehmen“ gedacht, erstarb in demselben Augenblicke, als der Wagen hielt und ein nicht mehr junger, aber sehr beweglicher Mann vom geöffneten Schlage niedersprang. Sie trat mit unwillkürlicher, jäher Bewegung erblassend vom Fenster zurück, preßte die Lippen auf einander, näherte sich dann mit einigen hastigen Schritten der Klingelschnur, berührte sie aber nicht, sondern blieb regungslos davor stehen.

Wenige Minuten nachher trat das Dienstmädchen ein und reichte der Herrin eine Karte. Genoveva warf kaum einen Blick darauf und gab schweigend ein Zeichen, den Fremden einzuführen.

Ein schlanker, eleganter Mann von etwa fünfzig Jahren trat ein. Das Zwinkern der Augen verrieth Kurzsichtigkeit, die degagirte Haltung den ci-devant jeune homme. Mit der Leichtigkeit des Weltmannes näherte er sich der Dame des Hauses, welche ihm keinen Schritt entgegenkam, kaum hatte er aber die Hälfte des Raumes durchmessen, der ihn von ihr trennt, als er, plötzlich stutzend, den Kopf zurückwarf und dann vorwärts eilte, indem er in namenlosem Staunen ausrief: „Genéviève!“

Genoveva neigte mit der gewohnten vornehmen Ruhe den Kopf und bot ihre Hand zur Begrüßung.

„Willkommen, mon cousin!“ sagte sie in französischer Sprache. „Dies ist wirklich eine Ueberraschung, und täuscht mich Ihre Miene nicht, so überrascht unser Begegnen nicht mich allein.“

Ma foi, gewiß nicht! Ich hatte keine Ahnung – sollten Sie hier engagirt sein, Genéviève?“

„Sie befinden sich in meinem Hause, Cousin. Wollen Sie Platz nehmen?“

Während ihre Handbewegung ihn einlud, hatte sie selbst sich bereits niedergelassen.

„In Ihrem Hause? – hm – man gab mir die Adresse einer verwittweten Madame Riedegg.“

„Mein Name!“ sagte Genoveva gelassen.

Der Gast, welcher neben ihr Platz genommen, sprang, wie elektrisirt, wieder auf.

„Sie haben sich verheiratet, sind Wittwe, und wir erfuhren nichts von alledem! Vrainment, Genéviève. Sie sind von einer Originalität –“

Nach kaum merklicher Pause sagte sie in leicht ironischem Ton: „Originell wäre meinerseits nur die Voraussetzung gewesen, daß man sich in Paris für dergleichen interessirte, nachdem –“

„Nachdem Sie französischen Abschied genommen,“ ergänzt der Andere. „Mein Gott, wenn Ihnen auch das von mancher Seite etwas übel genommen worden, so denken hierüber nicht Alle gleich. Ich zum Beispiel fand Sie durchaus in Ihrem Recht und erlaubte mir auch, mich in diesem Sinne zu äußern. Offen gesagt, stand ich freilich mit meiner Ansicht ziemlich allein; meine Frau schlug sich zur Gegenpartei, aber Sie wissen, Genéviève, daß ich stets zu Ihren Bewunderern zählt, und that es mir unendlich

leid, nichts mehr über Ihr Ergehen erfahren zu können. Nun

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_539.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)