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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

den Beistand der Dichter rechnet, wo um die Freiheit gegen den Despotismus gekämpft wird. Und dazu konnte man sich berechtigt erachten, da Puschkin kein Hehl daraus gemacht hatte, daß seine Seele von Freiheitssehnsncht erfüllt war.

Als achtzehnjähriger Jüngling war er aus dem Lyceum nach Petersburg gekommen, um dem Ministerium des Aeußeren zugetheilt zu werden. Er tanzte, schwärmte, flatterte wie ein Schmetterling um die Frauen her; man bewunderte seine gesellschaftlichen Talente, aber durch Arbeitssinn fiel er Niemandem auf. Um so mehr war man überrascht, als er sein Epos „Rußlan und Ludmilla“ veröffentlichte, welches sofort die hohe dichterische Begabung Puschkin’s außer Zweifel stellte. Noch größer aber wurde der Respect, als Epigramme voll Witz und Schärfe, Gedichte voll tiefer Empfindung, Freiheitslieder voll Gluth und Energie unter seinem Namen im Manuscripte von Hand zu Hand wanderten.

„Dieser Puschkin ist Einer von den Unseren,“ flüsterten die Revolutionäre einander zu; „er ist ein gefährliches Subject,“ decretirte der Czar, als ihm Puschkin’s „Ode an die Freiheit“ von höfischen Angebern zugetragen worden war. Und da derartige gefährliche Subjecte unter allen Umständen aus Petersburg entfernt wurden, so konnte auch Puschkin dem Schicksale der Verbannung nicht entgehen; man internirte ihn auf seinem Gute Michailowsk. Während er aber fern von der Hauptstadt im Exil lebte, erhoben sich die Decabristen und wurden niedergeschlagen, und als Nicolaus im Jahre 1826 zur Krönung nach Moskau kam, ließ er den Dichter durch einen Feldjäger zu sich entbieten, um ihm die Freiheit wiederzugeben. Das war Puschkin’s Antheil an der damaligen revolutionären Bewegung; er hatte durch seine Gedichte geholfen, sie vorzubereiten, aber der Verschwörung war er fern geblieben. Nun leuchtete die Gunst des Czars über seinem Haupte, aber ihn vollends zum Sclaven zu machen, war sie nicht im Stande. Er schwieg, da er nicht sagen durfte, was ihm das Herz bewegte. Der Czar berief ihn zu sich in den Winterpalast, um ihn zu fragen, was das beharrliche Stillschweigen seiner Muse bedeute.

„Sire,“ ankwortete der Dichter nach einigem Zögern, „ich will mit der Censur nichts zu schaffen haben.“

„Ist’s das, Alexander Sergejewiksch,“ sprach der Czar, „so werde fortan ich selbst Dein Censor sein.“

Und in der That gingen von dieser Zeit alle Manuscripte Puschkin’s durch die Hände des Czars.

Freilich war damals Alexander Puschkin kein Poet mehr, der dem Czarenthume gefährlich zu werden irgend eine Neigung in sich verspürte. Er hatte es aufgegeben, einen Kampf zu führen, in welchem rohe Gewalt ideale Forderungen niederhalten sollte. Aber die Thatsache, daß der Czar selbst seine Muse beaufsichtigte, hatte eine doppelte Wirkung: sie brachte ihn bei den Einen in den Ruf eines Abtrünnigen und erhöhte in den Augen der Anderen seinen Werth. Der Dichter ging mit dem König, aber als Geisel, nicht als freier Mann. Wer Augen hatte, um zu sehen, dem blieb die wahre Bedeutung dieses Schauspieles nicht verborgen: Nicolaus war zum Censor geworden, um die Poesie zu unterjochen; er wollte sie nicht zu fürchten haben; deshalb fesselte er sie unter dem Vorwande, sie versöhnen zu wollen.

Fürchtete er sie aber wirklich, dieser eherne Autokrat, dem niemals eine Anwandlung von Milde die Seele rührte? Nun, was Nicolaus empfand, das war nicht jene Furcht, welche eine Schwester der Feigheit ist, sondern die andere, mit der die Schlauheit ihre Wiege theilt. Auch hieß dasjenige, wovon Puschkin’s Muse eine Weile gesungen hatte, nicht Freiheitsdurst, sondern Weltschmerz. Von England war das Gespenst herübergekommen; es hatte trotz aller Wachsamkeit der Kosaken die Grenzen Rußlands überschritten. Wenn man es sich verkörperte, so glich es einem wunderschönen, leidenschaftlichen, in allen Tiefen und auf allen Höhen der Menschheit bewanderten Manne, der den Despoten und den Philistern trotzte, einem Manne, der, halb Faust und halb Don Juan, nicht einmal seinen hinkenden Fuß zu verbergen brauchte, um die Frauen an sich zu fesseln, der eiligst da war, wo Völker um ihre Freiheit stritten – dieses Gespenst war mit Einem Worte Lord Byron. Und Nicolaus sah ein, daß auch ein Czar ohnmächtig war, zu verhüten, daß die Jugend sich von dem britischen Lord verzaubern ließ, daß sie ihm trunken folgte auf den Pfaden seiner unerhörten Phantasie und in Verzückung nachlallte, was er ihr vorsang.

Auch war damals noch die russische Jugend empfindsam, den Eindrücken der Schönheit zugänglich; sie hatte, freilich nur innerhalb des Kreises, den als ungeheuerer äußerer Ring die stumpfe Masse der Leibeigenen umgab, an deutschen und französischen Dichtungen ihre geistigen Neigungen genährt. Heute ist diese Jugend roh, verkommen, mit unverdautem Wissensstoffe angefüllt. Damals schwur sie auf Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Schiller; heute kniet sie vor Bakunin, Lassalle. Damals erfuhr sie in den Lyceen die Wirkung classischer Studien, und wenn sie auch für Tacitus sich nicht begeistern durfte, so konnte sie an Ovid und Horaz sich unbehindert ergötzen. Heute wird sie durch eine Realschule gejagt, der es entweder an den unteren oder an den oberen Classen gebricht und die kein Recht besitzt, ihre Zöglinge der Hochschule zu übergeben; wenn sie diese Realschule absolvirt hat, so steht sie rathlos da, ohne Aussicht auf Amt und Beschäftigung, und als ein Glück muß es dieser ausgediente Realschüler ansehen, wenn er irgendwo in Dorf oder Stadt bei einem Friedensrichter als Schreiber ein Unterkommen findet. Damals war der Geblldete in Rußland zumeist auch der Reiche; henle ist der halbgeblldete Arme in der ungeheueren Mehrzahl. Und der Staat, der diese Halbbildung befördert, sorgt nicht einmal dafür, daß der Student bewahrt bleibe vor verfrühter Noth und Sorge; er erlaubt ihm, zu heirathen, noch bevor er die Universität verlassen – so reißt er mit sich auch ein Weib in Elend und Entbehrung.

Damals also flüchtete das Mißvergnügen sich in die Hülle des Weltschmerzes; es rang nach einem poetischen Ausdrucke. Heute nennt es sich Nihilismus, und durch dreiste politische oder socialistische Formeln hindurch grinst sein verzweifelter Blick den Staat, die Gesellschaft, die Familie an. Dieses Mißvergnügen war schüchtern, resignirt, als es dem Staate gegenüber keine andere Waffe zu schwingen vermochte, außer derjenigen des Verses oder der Philosophie; es ist herausfordernd und kühn geworden, seitdem es auf der Eisenbahn dahinbraust, mittelst des elektrischen Drahtes die Welt durchblitzen, auf dem Rücken des gedruckten Wortes in drei Tagen die Grenzen des gewaltigen Czarenreiches durchmessen darf.

Will man. nun das Verhältniß Alexander Puschkin’s zum Nihilismus bestimmen, so darf man wohl sagen, er repräsentire in der Entwickelungsgeschichte desselben das ästhetische Stadium, jenes nämlich, wo die Bewegung schlummert und ohne alle Tendenz, zwecklos, gleichsam um ihrer selbst willen sich bemerkbar macht, ja wo sie noch demjenigen, den sie erfaßt, nicht einmal zu vollem Bewußtsein kommt. Es muß als feststehend angesehen bleiben, daß der Kampf in Rußland sich, ganz wie anderswo, zunächst um das Recht der Persönlichkeit entspann und daß er in der Folge nur in dem Maße einen specifischen Charakter erhielt, in welchem die Art des Kampfes eine andere, dem slavischen Naturell der Kämpfer entsprechende wurde. Das Ringen um die persönlichen Berechtigungen hat aber von vornherein in seiner allgemein menschlichen Bedeutung etwas, das dem Poeten näher geht, als dem Politiker und Staatsökonomen. Je mehr Gewalt der Czar für sich in Anspruch nimmt und je brutaler seine Werkzeuge das Berechtigungsgebiet des Einzelnen – angeblich im Namen des Staates – verengern, desto eifersüchtiger trachten diejenigen, welche auf ihre Individualität nicht verzichten wollen, ihr „Menschenrecht“ zu wahren. Czar Nicolaus ist unter allen Czaren der größte Verächter des persönlichen Rechtes gewesen: er hat Iwan Turgenjew verbannt, weil dieser in einem Nachrufe von dem „großen“ Gogol gesprochen hatte. Als „groß“ sollte in Rußland nur der Czar zu gelten haben. Unter der nikolaitischen Regierung ist daher auch der Keim des Nihilismus gelegt worden.

Aber wo waren damals die Individualitäten in Rußland, welche sich zu wehren den Muth haben konnten? Unter dem Adel, der seitdem niemals aufgehört hat, an den Nihilismus sein Contingent abzugeben. Es war doch für einen Edelmann, der sich einen höheren Stammbaum als die Romanows vindicirte, auf die Dauer kaum erträglich, des Morgens über dem Voltaire, dem Byron, dem Schiller zu sitzen und des Nachmittags sich von einem Tschinownik „in des Czars Namen“ irgend ein persönliches Recht cassiren zu lassen. Es gab Niemanden unterhalb des Czars, der in irgend einem Augenblicke vor der Knute, vor der Deportation sicher war, und eine Sage erzählt, daß sogar Puschkin geknutet worden sei, als es sich darum handelte, ihm revolutionäre Neigungen auszutreiben. Zunächst also war die Bewegung eine wesentlich aristokratische, ihr Ziel, dem Czar und seinen Creaturen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_550.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)