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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Zunächst kann uns Keiner beistehen, wir müßten uns denn selbst helfen können. Mein Sohn ist zu großen Ansprüchen berechtigt – jeder Anspruch wird ihm bestritten. Lassen Sie sich hierin genügen! Es giebt Dinge, welche nur Schweigen behütet. Ich war kühn genug, zu glauben, daß es blos der Energie bedürfe, um dorthin zu dringen, wo man das Recht hat, zu stehen – inzwischen bin ich weiser geworden und habe begriffen, daß ich an fremder Gewalt scheitern mußte, weil ich nur ein Weib bin und – allein.“

Wie eine Fluth brach des Mannes lang zurückgedämmte Empfindung bei diesem Worte zu Tage:

„Nicht allein, nie wieder allein, sobald –“

Sie hob leicht die Hand. Es war nur eine leise abwehrende Bewegung, doch verstummte er davor augenblicklich, während ihm das erregte Blut zurück zum Herzen trat. Schon einmal hatte ihm diese fast unmerkliche Geberde das Wort auf der Lippe, fast den Gedanken in der Seele erstickt; das war vor Wochen gewesen; seitdem lag es wie ein Riegel vor seinem Innersten – was hatte diesen zurückgleiten lassen in einem Moment, wo jeder Wunsch, sich zu äußern, ferner von ihm gelegen als je?

Genoveva’s kühle Hand berührte flüchtig die des Verstummtem

„Irre ich nicht, so sprachen Sie mir einst vom Richteramte der Zeit,“ sagte sie gelassen, „sie mag unsere Bundesgenossin werden. Warten ist auch eine Kraft. Die meisten Menschen wollen und suchen Vieles; Einiges davon wird ihnen dann auch wohl zu Theil. Ich will nur Eines; es giebt für mich nur Eines zwischen Himmel und Erde: meinen Sohn!“

Sie schwieg, wie erschöpft; ein tiefer Athemzug hob ihre Brust. Dann erhob sie sich und stand vor Fügen, der aufgesprungen war, als ihm zuvor die leidenschaftlich erregten Worte entschlüpften; etwas gegen ihn vorgeneigt, sagte sie mit großer Anmuth:

„Sie forderten Vertrauen, lieber Freund – ich gab es. Sie kennen nun den Grundton meiner Gegenwart und Zukunft.“

Ihre dunklen Augen forschten einen Moment in seinem abgewandten Gesicht und senkten dann den Blick auf die Baumwiese, über welche Jana’s leichte Gestalt eben dem Hause zuschritt.

„Vertrauen fordert Vertrauen,“ sagte Genoveva immer noch mit dem halben Lächeln, welches ihre letzten Worte begleitet hatte; „auch mir ahnte vor Kurzem noch etwas, was Sie betrifft; hätte ich nur geträumt?“.

Er wendete sich rasch; sein Blick folgte ihrem auf Jana gerichteten Auge.

„Geträumt!“ sagte er schroff mit dicht an einander gerückten Brauen. „Oder sagen wir lieber wie im Märchen: es war einmal. Uebrigens habe ich Ihnen wirklich etwas mitzutheilen, gnädigste Frau. Briefe – Sie wissen, ich erhielt heute Morgen Briefe – rufen mich ab, früher als ich dachte. Man hat mir die Stelle als Capellmeister des P…’schen Conservatoriums angeboten; ich bin nicht entschlossen, will aber zunächst an Ort und Stelle. So stehe ich unerwartet vor raschem Abschied. Sie entlassen einen Dankbaren, Ihnen tief Verschuldeten“

Er hatte dies hastig, fast athemlos gesprochen. Als er nun doch Genoveva ansah, blickte er in ein seltsam befremdetes Gesicht. Während er sich längst von ihr errathen glaubte, selbst ihre Abwehr zu empfinden gemeint, war sie himmelweit davon entfernt gewesen, ihn zu sich in irgend einer Beziehung zu denken. Ihre frappirte Miene gab ihm sofort Stolz und Maß zurück.

„So plötzlich?“ fragte sie. „Und Ihre Symphonie?“

„Sie hören das Finale wohl einmal vom Orchester. Statt dessen, gnädige Frau, gestatten Sie mir, ein Heft Lieder auf Ihre Schwelle zu legen, ehe der wandernde Musikant morgen darüber hinausschreitet.“

„Morgen schon? Wahrlich, ein kurzer Abschied für die lange Freundschaft.“

„Ist es nicht genug am Abschied – sollte er auch noch lange währen? Zwischen heute und morgen giebt es viele Stunden.“

Er trat ein paar Schritte vor und blickte nun, die Hand auf dem Geländer, in den leuchtenden Abend hinaus. Ja, mit Abschiedsaugen sah er auf Berg und Thal. Die Sonne stand schon hinter dem Gebirge und jeder Gipfel begann sich zu färben; röthliche Flöckchen irrten am Gestein entlang und zerflossen. Hoch darüber standen die goldbesäumten Wolken, als spiegelte sich das Gebirge am Firmamente wie in einem See. Er hätte die Arme ausbreiten mögen; tief innen sprach eine Stimme mit vollem, süßem Klang: „Es war doch eine schöne Zeit“

Ob das Wort wirklich auf die Lippen getreten, ob Genoveva es in seinen schimmernden Augen gelesen? Sie stand an seiner Seite; ihr herrlicher Kopf war von Licht umflossen; nie hatte er in ihren Augen diesen hinreißenden Ausdruck gesehen

„Eine schöne Zeit!“ sprach auch sie. „Viel brachten Sie uns; viel nehmen Sie mit sich, wenn Sie uns verlassen. Ich habe auf der Welt keine große Summe von Freunden zu verlieren. Haben Sie Dank! Und Sie wissen, Dank ist neue Bitte. Ich zähle auf Ihre Wiederkehr, zähle darauf, voll Ihnen zu hören.“

Ehe er geantwortet, trat Jana auf die Terrasse. Hatte sie diese letzten Worte vernommen? Vielleicht; vielleicht auch hatte es einen anderen Grund, warum das Theebret, welches sie in den Händen trug, so erzitterte, daß die darauf stehenden, mit Erfrischungen gefüllten Glasschalen leise an einander klirrten. Genoveva sah sie nachdenklich an. Als Jana die leichte Last auf dem Tische niedergestellt hatte, ging Frau von Riedegg an ihr vorüber, dem Zimmer zu.

„Ich bin gleich zurück,“ sagte sie, auf der Schwelle den Kopf nach ihr gewendet; „laß Dir inzwischen erzählen, daß unser Hausgenosse von uns gehen will in die weite Welt hinaus! Darum nehme ich Dir für heute Dein Amt; der letzte Abend soll festlich sein – das will ich selbst anordnen.“

Sie nickte und verschwand in der Thür.

Jana blieb, wie angewurzelt, stumm dort stehen, wo sie die unerwartete Kunde vernommen. Aus ihren bang auf Fügen gerichteten Augen sprach so unverhülltes, tiefes Leid, daß sein ohnehin zum Aeußersten angespanntes Fühlen überwallte. Mit zwei Schritten war er neben ihr, faßte ihre beiden Hände und sah ihr mit dem treuesten Blick in das bebende Gesicht.

„Jana, liebe Jana!“ rief er innig, „es ist wahr: ich will, ich muß fort. Wie viel hätte ich Ihnen zu sagen und kann doch Nichts sagen, Nichts. Kann Sie nur um Verzeihung bitten tausendmal, wenn ich mich an Ihrem goldenen Herzen versündigt habe – nicht zu meinem Heil, o, nicht zu meinem Heil.“

Er war in diesem Moment fassungslos; während er ihre kalten Hände zu seinen Augen emporhob und diese dagegen drückte; vernahm er des Mädchens sanfte, zitternde Stimme:

„Ich verstehe Sie nicht, lieber Herr Fügen. Das heißt, ich weiß ja Alles, was Sie mir nicht sagen; ich habe es ja schon lange gesehen, und es ist so natürlich. Wer könnte mit ihr zusammen sein, und sie nicht – auch hat es mich wohl bekümmern müssen, da ich weiß, wie sie einzig nur trauert, wenn sie das auch nicht zugiebt, trauert, und einzig um Sigi sorgt. So mag’s denn gut sein, wenn Sie fortgehen. Sie waren längst nicht mehr froh, nicht mehr wie sonst – es wird also gut sein. Was Sie aber von Verzeihung sagten, das verstehe ich nicht. Mir – ich – ich habe nur zu danken.“

Dies Alles war stockend, allmählich zu Worte gekommen. Er ließ ihre Hände los und sagte traurig, ohne sie anzusehen:

„Es war eine Zeit, Jana, da habe ich einen schönen Traum geträumt. Da sah ich ein liebes Mädchen, ein treues Herz an meiner Seite, lebenslang, als mein gutes Weib, mit dem der Weg eben und sonnig wäre, oder doch leichter zu gehen, falls er einmal steil würde. Jana, zuweilen spricht man aus dem Traume heraus, und vielleicht ist mir das auch geschehen, mit und ohne Wissen und Wollen – das möcht’ ich mir von Ihrem guten Herzen verzeihen lassen. Denn – Sie haben recht gesehen – und mein schöner Traum ist aus.“

Ihr zartes Gesicht glühte. Seliges Lächeln theilte ihre Lippen, ging in den lieben Augen auf.

„Jetzt träum’ ich selber wohl,“ sagte sie ganz, ganz leise. „Oder könnt’ es wahr sein, hätten Sie wirklich je, auch nur einen Augenblick lang, so an mich gedacht, mich werth gehalten –? Ich bin es gar nicht werth, aber ich dank Ihnen tausendmal dafür, wie für Alles, Alles, was Sie mir jemals gönnten. Nie – Gott ist mein Zeuge – nie hatt’ ich so hohe, so unmögliche Gedanken; nie hätte das auch sein können, lieber Herr Fügen; denn ich hab’ ein heiliges Gelöbniß gethan, bei meiner Herrin und den Kindern zu bleiben, so lang ich lebe. Das dürft’ ich nicht brechen, auch nicht um den höchsten Preis. Was Sie mir da sagten, hat mir Armen, Geringen aber eine Krone aufgesetzt, die Keiner jemals sehen wird, die ich nur allein weiß, und daran gedenken werde ich bei Tag und bei Nacht, um ihrer werth zu sein, so weit ich’s vermag.

Seit Sie bei uns sind, bin ich viel besser geworden – das ist gewiß;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_555.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)