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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 35.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


14.

Seit einem Jahre hatte Richard Fügen die Stellung in Prag, welche ihn nach seinem Scheiden von der Moosburg längere Zeit fesselte, mit einer andern, ihm mehr zusagenden vertauscht. Er war einem Rufe nach S. als Director eines dort unlängst gegründeten Musikinstitutes gefolgt, und waren auch weder Gehalt noch Wirkungskreis ersten Ranges, so bot sich doch gerade das, was ihm zusagte: Frei von jeder andern Aufgabe, als der, eine Musikschule und den Domchor zu leiten, fand er Muße genug zu ungestörtem künstlerischem Schaffen.

Als er aus dem weiten, von großartigen Schneehäuptern begrenzten Thalgrunde in den malerischen Bergpaß einfuhr, in dessen Schooße die schöne Stadt so vornehm ruht, wallten und sprühten seine Lebensgeister in die Wette mit dem grünen Gebirgsstrome, welcher plätschernd vor ihm hereilte. Wer je den Alpen nahe gelebt hat, wird den Zug nach ihnen nicht wieder bannen. Der erste Eindruck, dessen sich Richard Fügen bewußt wurde, glich einem Heimathsgefühle und bestätigte sich ihm bald in erfreulicher Weise; denn alle Verhältnisse, in denen sich sein Leben hier bewegte, gestalteten sich befriedigend; er fühlte sich in seinem neugewonnenen Berufe wohl. In der Stellung eines Capellmeisters liegt für den Musiker ein großer Reiz; stellt sie doch Kräfte zu seiner Verfügung, über die er im vollen Sinne des Wortes nur den magischen Stab zu schwingen braucht, um den ihm werthvollsten Inhalt des Lebens zum Ausdrucke zu bringen.

Aber nicht nur in seinem Wirken nach außen hin fand Fügen Befriedigung, er hatte sich auch sein häusliches Leben schon seit Jahren behaglich eingerichtet. Seine Haushälterin, die alte, noch flinke Resi, hielt zwar ihren Herrn in gewissen Punkten etwas unter dem Pantoffel, wäre aber für ihn durch alle Feuer gegangen und verstand sich vollkommen auf seine Art und Weise. Daß sie ihm von Prag nach S. folgte, erschien Beiden als selbstverständlich; sie hatte die von ihm hier gewählte Wohnung so gefällig und behaglich einzurichten gewußt, daß er sich nicht ohne eine Art naiven Stolzes „daheim“ umschaute.

Aber heute fühlte sich der Herr Capellmeister in seiner freundlichen Wohnung nicht recht wohl. Obgleich erst der September zur Rüste ging, stürmte es doch draußen schon herbstlich, und zum ersten Male fiel es Fügen auf, wie rasch die Tage abnahmen. Draußen plätscherte der Regen, leise, unermüdlich; im Zimmer über ihm wurde Clavier gespielt – das zog ihm die Stirn kraus und verbesserte keineswegs seinem Humor. Er streckte die Hand nach der Klingelschnur aus, ohne dieselbe jedoch zu ziehen, und griff dann plötzlich nach Hut und Ueberzieher, um seine schlechte Laune spazieren zu führen.

Dieses probate Mittel, das fast etwas von homöopathischem Beigeschmack hat, versagte auch heute seine Wirkung nicht; denn Sturm und Regen, welche den Menschen zum Kampf herausfordern, sei es auch nur zu dem zwischen seinem Schirm und dem Winde, schlagen die gewöhnliche Species üblen Humors meist in die Flucht – so auch hier! Während Fügen auf seinem Gange durch die Straßen an St. Peter vorbeikam, drangen durch die schwach erleuchteten Fenster der Basilika langgezogene Orgeltöne. Die vereinzelten Klänge mischten sich mit dem Plätschern des Regens und des Petrus-Brunnens, und plötzlich trat dem Capellmeister ein Motiv klar vor die Seele, das seit Tagen schon immer vor ihm her in den Lüften geschwebt hatte, ohne sich ergreifen zu lassen.

Eilig machte er sich aus der Heimweg und kam triefend und durchfroren, aber seelenvergnügt in seiner Clause an, wo bereits die brennende Lampe seiner harrte. Es gehörte zu Fügen’s Eigenthümlichkeiten, daß er es nicht leiden konnte, in ein finsteres Zimmer zu treten; bis seine sparsamkeitsbeflissene alte Köchin sich dieser „Verschwendung“ gefügt, hatte es manchen Kampf gekostet, und noch jetzt erlebte der Hausherr zuweilen, daß er, von der Straße aufblickend, oben alles dunkel fand und die Sünderin überführen konnte, heimtückisch auf der Lauer gestanden, und sich erst des Gehorsams befleißigt zu haben, während er bereits die Treppen erstieg.

Als er, aus den nassen Hüllen geschält, jetzt in sein Zimmer trat, schimmerte ihm zur Erhöhung der glücklich gewendeten Laune von einem Tischchen her etwas Weißes entgegen. Heimzukommen und einen Brief vorzufinden gehörte für Fügen zu den guten Dingen einer Welt, die ihm überhaupt in keiner Weise als schlechte erschien. Er hatte noch niemals Anlaß gehabt, sich vor verschlossenen Briefen zu fürchten, correspondirte überhaupt nur mit Befreundeten oder den Verlegern seiner Compositionen, und durfte von Beiden meist Günstiges erwarten Dennoch grüßte er den stummer Gast vorläufig nur mit einem Augenzwinkern, setzte sich sogleich an den mit rastrirtem Papier bedeckten riesengroßen Schreibtisch und zeichnete sein Motiv auf.

Als nach geraumer Zeit die Wirthschafterin eintrat, um für das Abendbrod zu decken, und nun den Brief sachte auf den Schreibtisch legte, streifte sein Blick zerstreut die Adresse, blieb aber sofort daran hängen. Eilig streckte er die Hand aus, der Brief

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_569.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)