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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

wurde hereingeführt. Charlotte dankte ihm für das Interesse, das er an ihr zu nehmen scheine, und saß ihm mit Heiterkeit. Sie unterhielt sich mit Hauer über seine Kunst und den Frieden, den ihr die vollbrachte That ließ. Sie sprach von den Freundinnen ihrer Kindheit und bat ihn, das Portrait, welches er im Großen ausführte, im Kleinen zu copiren und dieses Miniaturbild ihrer Familie zu schicken. Während der Unterhaltung wurde leise an der Thür des Kerkers geklopft. Man öffnete – es war der Henker mit der Scheere und dem rothen Hemd. Charlotte erbleichte und schauderte über diese Zurüstungen.

‚Wie, schon jetzt?‘ rief sie aus. Sie faßte sich aber bald.

‚Mein Herr,‘ sagte sie zu dem jungen Künstler, ‚ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll; ich habe Ihnen nichts zu bieten, als dies; bewahren Sie es als ein Andenken an meine Dankbarkeit!‘

Mit diesen Worten nahm sie dem Henker die Scheere aus der Hand, schnitt eine Locke von ihrem langen Haar und überreichte sie Hauer. Die Familie Hauer’s besitzt noch das Portrait, dessen Vollendung durch den Tod unterbrochen wurde. Nur der Kopf war gemalt; die Büste war kaum skizzirt. Der Maler stellte Charlotte später im rothen Hemde dar, das sie auf dem Schaffote trug.

In dem Augenblicke, als sie auf den Karren stieg, um zum Schaffot zu fahren, brach ein Gewitter über Paris los. Schaaren wüthender Weiber verfolgten den Karren mit ihren Verwünschungen, aber Charlotte ließ ihren glänzenden Blick voll Heiterkeit und Mitleid über das Volk gleiten.“

Ja, sie fühlte sich wie eine Rachegöttin, die für hundert unglückliche Opfer das Gericht an ihrem Henker vollzog. Scheidend gewann sie noch einen begeisterten Verehrer, den Mainzer Lux, der in leidenschaftlicher Bewunderung ausrief: „Seht, sie stirbt würdiger als Brutus!“ Er büßte seine Begeisterung mit dem Tode. Zur Feier der jugendlichen Heldin aber stimmte André Chènier seine Leier. Und jenseits des Rheins entflammte sie den Sänger der „Messiade“ und den Dichter des „Titan“ zu Oden in Vers und Prosa, die dem Schatze unserer Nationalliteratur angehören.




Die Veredelung der Getreidearten.

Stellen wir an unsere heutigen Landwirthe die Frage, ob sie sich jemals bemüht haben, aus den bereits vorhandenen und von ihnen cultivirten Getreidevarietäten neue und bessere zu ziehen, so werden sie in den meisten Füllen über ein derartiges gelehrtes Ansinnen bedenklich die Köpfe schütteln. Sie unterlassen es zwar nicht, ihre Pferde und Hunde, ihre Rindvieh- und Schafheerden durch rationelle Zuchtmethoden zu veredeln; sie thun dasselbe mit ihren Obstbäumen und wissen auch zu ihrem Vergnügen aus den alten Rosenstöcken im Blumengarten neue Arten zu ziehen; daß sie aber die wichtigste Frucht, welche sie bauen, züchten, daß sie Getreide veredeln könnten, daran haben sie in der Regel gar nicht gedacht. Und doch ist die Veredelung der Pflanzen eine längst bekannte Thatsache. Wir brauchen nur in eine Kunstgärtnerei zu gehen, um uns zu überzeugen, daß man aus bereits vorhandenen Pflanzenarten neue Varietäten ziehen kann, welche uns durch buntere Farbenpracht, sonderbare Blätter- und Blüthenformen erfreuen.

Schon in der Schule wird uns übrigens gelehrt, daß die Gärtner neue Varietäten der Blumenpflanzen zu bilden vermögen, indem sie den Pollen der einen Varietät auf die Narbe des Blüthenstempels der andern übertragen, den Fruchtknoten hierdurch befruchten und auf diese Weise Samen einer neuen „Bastardpflanze“ erhalten. Dieser Zweig der Kunstgärtnerei ist so bekannt, daß wir Näheres darüber nicht zu berichten brauchen.

Aber wir haben dennoch auf dieses Beispiel hingewiesen, weil die Zucht einer einzigen neuen, für unser Klima besser passenden und reichlicheren Ertrag liefernden Roggen- und Weizenvarietät in der That für die Menschheit von weit bedeutenderem Nutzen wäre, als alle die bis jetzt neu gezogenen, noch so farbenprächtigen Blumen. Leider herrscht in den landwirthschaftlichen Kreisen gegen diese wichtigen Arbeiten eine unerklärliche Abneigung, und so kam es, daß die uralte, für die Völker unentbehrliche Landwirthschaft in dieser Hinsicht von der jüngeren Luxusindustrie der Gärtner weit überflügelt wurde.

Betrachtet man überhaupt die Geschichte der Getreidearten, so kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, daß sich auch ihnen gegenüber das alte Sprüchwort von der menschlichen Undankbarkeit bewahrheitet habe. Wissen wir denn genau, weß Landes Kinder die vier Haupternährer der Menschheit, die vier Grasarten, Roggen, Weizen, Hafer und Gerste sind? Nur dunkle Vermuthungen, keinen Aufschluß, giebt hierüber die Wissenschaft. Und würde man den gebildeten Städter nach dem Aussehen der Brodfrüchte, welche er täglich genießt, befragen, wie oft würde man alsdann eine falsche und wie oft gar keine Antwort erhalten!

Unsere städtischen Leser, welche das einst in der Schule gewonnene Bild vom Bau der Getreidepflanzen nunmehr wieder aus dem Gedächtnisse verloren haben, bitten wir daher, zunächst die auf der Rückseite befindliche Abbildung zu betrachten. Die einzelnen Theile unserer Getreidearten werden dort so genau veranschaulicht, daß wir uns ein weiteres Eingehen auf diesen Gegenstand füglich ersparen können. Nur auf den Bau der Grasblüthe müssen wir ganz besonders die Aufmerksamkeit lenken. Die inneren Theile der Blüthe bei den hier in Frage kommenden Getreidearten, die drei Staubgefäße und der Stempel, sind in der Regel von je zwei Klappen oder Spelzen, den Kelch- und den Blüthenspelzen eingeschlossen. Diese öffnen sich nur bei schönem Wetter und nach erfolgter Befruchtung der Stempelnarbe durch den reifgewordenen Pollen, wobei an der Aehre die grüngelben Staubbeutel zum Vorschein kommen. Im gewöhnlichen Leben pflegt man diesen Zustand gerade für die Getreideblüthe zu halten, wiewohl er nur zeitweise eintritt und die Getreidearten blühen und befruchtet werden können, ohne daß die Klappen sich öffnen.

Kehren wir jedoch zu unserm Hauptthema zurück, und betrachten wir die in unserem Jahrhunderte angestellten Versuche über die Veredelung der Getreidearten, welche in der Geschichte des Ackerbaues einen wichtigen Markstein für alle Zeiten bilden werden![1]

Neue Varietäten der Getreidearten können aus zwei Quellen gewonnen werden: man findet sie auf angebauten Feldern unter anderen Pflanzen als sogenannte Naturspiele oder man züchtet sie durch Kreuzung verschiedener Sorten mit einander.

Der vor wenigen Jahren verstorbene, um die Landwirthschaft hochverdiente Schotte Patrick Shirreff hat bei seinen Versuchen zunächst den ersten Weg betreten. Als er im Frühling des Jahres 1819 über ein Weizenfeld der Farm Mungoswells ging, bemerkte er eine sich ausbreitende grüne Pflanze, welche in Folge des strengen Winters sehr gelitten hatte. Shirreff suchte sofort durch Hinzubringung von Dünger ihr Wachsthum zu kräftigen, und die Pflanze ergab schließlich eine Ernte von 63 Aehren mit 2473 Körnern, welche im nächsten Herbste ausgesäet wurden. Das Korn dieses Weizens zeigte im Vergleich zu den anderen bekannten Varietäten besondere Eigenschaften, und nach vier Jahren brachte es Shirreff unter dem Namen „Mungoswells wheat“ in den Handel. Dieser Weizen wird nun bis auf den heutigen Tag in England cultivirt, wiewohl ihm vielfach ein anderer Name beigelegt wurde.

In dieser Weise entdeckte später Shirreff andere Varietäten, und als seine Bemühungen allgemeiner bekannt wurden, sandte man ihm von verschiedenen Orten Englands Aehren, welche sich durch ein ungewöhnliches Aussehen kennzeichneten und aus welchen neue Varietäten von Weizen, Gerste und Hafer gezüchtet wurden.

Shirreff begnügte sich aber nicht mit dem Aufsuchen und Aufziehen dieser zufällig auftretenden Naturspiele, sondern betrat seit 1856 den allein richtigen Weg, indem er zur künstlichen Erzeugung neuer Varietäten überging.

Die Thatsache, daß man die Weizenarten mit einander kreuzen könne, war übrigens schon damals nicht unbekannt. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hatte nämlich der durch seine Erbsenkreuzungen berühmte englische Gärtner Knight verschiedene Sorten Weizen unter einander gesäet und dadurch, daß der Blüthenstaub der einen Pflanze durch Wind und durch Insecten auf die Blüthen der anderen übertragen wurde, neue Varietäten erhalten. Knight constatirte jedoch nur die Thatsache, die weder von ihm

noch von Anderen praktisch verwerthet wurde. Mit Knight’s Verfahren

  1. Vergl. auch: „Die Verbesserung der Getreidearten.“ Von Patrick Shirreff, deutsch von Dr. R. Hesse. (Halle, Hofstetter.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_575.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2022)