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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

classischem Anstriche; es fehlt ihm ganz und gar der erkältende Hauch, der gar zu leicht derartige Anlagen zu einer gern gemiedenen Schauerstätte macht. Was ihn aber erst recht zu einem Juwel von höchstem Glanze erhebt, das ist der wunderbar schöne Ausblick, der sich von seinen höher gelegenen Punkten dem Auge bietet. Weit, weit hinaus schweift der Blick über das herrlichste Panorama, über die langausgedehnten, wechselreichen Häuserlinien von Brooklyn, über das Häusermeer von Manhattaneiland, dem allenthalben reiche Paläste, stolze Thürme und kühne Brücken entsteigen. In majestätischer Ruhe liegt die Herrscherin der Neuen Welt vor uns da wie ein Zauberbild, umrahmt in blauer Ferne von den Höhenzügen der Staaten New-York, New-Jersey und Pennsylvania – zur Linken aber dehnen sich breit und gewaltig die dunkelblauen Fluthen der mächtigen Hudsonmündung, die, schon halb dem Meere zugehörig, einen der stolzesten und schönsten Häfen der Welt bildet. Und nichts ist da, was die tiefe Ruhe stört; wir hören kaum den Lärm der Riesenstadt, kaum das Rollen eines den Friedhof durcheilenden Wagens, kaum den Signallaut der Schiffe, welche in weiter Ferne mit weißschimmernden Segeln durch die blaue Meeresbucht ihre stillen Bahnen ziehen.




Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum.
4. Iwan Turgenjew.

Wie Raketen im Kriege die feindliche Stellung anzeigen, so hatten die Dichtungen Nicolaus Gogol’s den Punkt offenbart, auf den das Mißvergnügen, das in den einsichtigen Volksschichten angehäuft lag, sich entladen sollte. Der Leibeigene, die „todte Seele“, mußte zu menschlichem Dasein emporgehoben, der Beamte, dieser Vampyr, ausgerottet werden. Aber damit war noch nicht viel gethan. Zu einem Angriffe gehört ein Plan, eine Aufstellung, eine Recognoscirung; es ist nicht genug, daß man den Feind kenne; man muß auch wissen, wie ihm beizukommen ist. Das aber liegt außerhalb der Grenzen, welche der Dichtung gesetzt sind. Hier muß der Agitator, der Publicist an’s Werk gehen. Und zwei Männer, Alexander Herzen und Michael Bakunin, traten auf den Schauplatz, um das Mißvergnügen aus der literarischen Sphäre hinüberzutragen auf den Boden des wirklichen Lebens. Herzen war ein großer Publicist und nur in sehr beschränktem Sinne auch ein Dichter. Er hatte an sich selbst erfahren, was der russische Despotismus und die russische Mißwirthschaft bedeuteten; denn man hatte ihn umhergehetzt von einem Ende des Reiches zum andern, ihn in Nischnei-Nowgorod internirt, wo er, im Range eines Hofrathes stehend, die wegen mißliebiger politischer Gesinnungen der polizeilichen Aufsicht verfallenen Leute, also auch sich selbst, zu überwachen hatte und in jedem Wochenrapport neben seinem eigenen Namen die Worte „gut aufgeführt“ schrieb. Dem Exil war er auf die Dauer doch nicht entgangen, und von London aus schleuderte er mit jedem neuen Hefte des von ihm gegründeten Blattes „Die Glocke“ einen neuen Funken unter das russische Volk. Er war es, der zuerst den Ruf nach Reformen erhob. Gleichzeitig wühlte Bakunin, ein kraftvoller, aber roher Agitator, aus dem Mißvergnügen die socialistischen Elemente heraus.

Verlangte Herzen nur Reformen, so predigte und betrieb Bakunin schlechtweg die Revolution, die Anarchie. Waren bis dahin das Unbehagen, die Unzufriedenheit, die Auflehnung nur in der Dichtung zum Ausdrucke gelangt, so wurden sie durch Herzen zu politischen, durch Bakunin zu socialistischen Factoren. Und damit war die strategische Aufstellung gegenüber dem Feinde vollendet. Nicht die Urheber des Nihilismus, wie man wohl gemeint hat, sind Herzen und Bakunin gewesen, sondern sie haben ihn kampffähig gemacht.

Wenn man verstehen will, wie merkwürdig zwischen Dichtung und Leben die Fäden hin- und herüberlaufen, so muß man das Bekenntniß Iwan Turgenjew’s lesen, das er noch lange vor dem Ausbruche des Kampfes in dem „Tagebuch eines Jägers“ abgelegt hat. Da dreht sich – es ist im Todesjahre Gogol’s – Alles noch um die Leibeigenschaft.

„Ich konnte,“ sagt er, „nicht mehr die gleiche Luft athmen, noch in einer Atmosphäre leben, die ich verabscheute. Ich mußte mich von meinem Feinde entfernen, um mit mehr Gewalt über ihn herzufallen. Dieser Feind hatte eine genau bestimmte Form und trug einen bekannten Namen: es war die Leibeigenschaft. Ich beschloß, bis zu meinem Ende gegen ihn anzukämpfen, und schwor, mich nie mit ihm auszusöhnen. Das war für mich der Schwur des Hannibal.“

In dem „Tagebuch“, dieser originellsten aller novellistischen Skizzensammlungen, steht Turgenjew noch unmittelbar unter dem Einflusse Gogol’s; sein volles und eigenes Besitzthum ist nur eine durch Wehmuth gedämpfte pessimistische Weltanschauung. Die „todte Seele“ wandelt ihm gespensterhaft nach auf Schritt und Tritt. Sie heißt bald so und bald anders, aber es ist immer herzerschütternd, sie zu sehen. „Dieser Mensch,“ lautet es von dem Leibeigenen Stiopuscha, „hatte nicht einmal eine Vergangenheit; man sprach gar nicht von ihm; bei der Seelenrevision war er sicherlich niemals gerechnet worden.“ Auch früher schon, vor dem „Tagebuch“, in den beiden Erzählungen „Mumu“ und „Das Wirthshaus an der Landstraße“, macht Turgenjew den Leibeigenen zum Mittelpunkt der Erzählung. Der arme taubstumme „Mumu“ kommt um seine Geliebte, eine Magd, ohne daß er sich beklagen darf, und da er sein trauriges Herz an ein Hündchen gehängt hat, befiehlt ihm die Herrin, daß er dieses mit eigener Hand ertränke. Aber wenn der Leibeigene das gepeinigte Opfer des Edelmanns ist, so stellt dieser hinwiederum doch auch nur einen Leibeigenen des Staates vor. Und das ist die fürchterliche Kette von Ursache und Wirkung: Wer Andere knechtet, ist zumeist selbst ein Knecht.

Dieser kleine russische Edelmann thut nichts, kann und weiß nichts, erstrebt nichts, kurzum, es ist ein Geheimniß, wozu und wofür er lebt, und wenn er just in seinen Knabenjahren denken gelernt hat, so fühlt er selbst, daß er eine zweck- und sinnlose Existenz führt. Ein solcher kleiner Tyrann, der bereits in Paris und Berlin gewesen, sagt:

„Sie halten mich für einen Steppenbewohner, für einen rohen Menschen, aber ich bin durchaus nicht, was Sie denken. Erlauben Sie! Erstens spreche ich Französisch nicht schlechter wie Sie und das Deutsche sogar besser. Zweitens habe ich drei Jahre im Auslande zugebracht; in Berlin war ich acht Monate. Ich habe den Hegel studirt, mein Herr, und kann Goethe auswendig; überdies bin ich lange in die Tochter eines deutschen Professors verliebt gewesen und heirathete hier in der Heimath ein schwindsüchtiges Fräulein, eine kahlköpfige, aber sehr bemerkenswerthe Persönlichkeit. Ich bin also eines Geistes mit Ihnen; ich bin kein Steppensohn. Auch ich bin reflexions-wurmstichig, und es ist nichts Unmittelbares an mir.“

Auch Nicolaus Gogol hat zeigen wollen, daß in Rußland nichts vorhanden sei, was nicht in Sclaverei verschmachte, daß der Leibeigene der Sclave des Edelmannes, der Edelmann der Sclave des Beamten, der Beamte der Sclave der Despotie sei, und insofern stellt Turgenjew bis zum Jahre 1852 – dem dreiunddreißigsten seines Lebens – keinen Fortschritt der Entwicklung dar. Er ist auch darin durchaus der Schüler Gogol’s, daß er nicht über die nationale Beschränkung hinauskommt, sondern innerhalb des engen Kreises specifisch russischer Anschauung festgebannt bleibt. Was er von sich aus hinzubringt, ist die tiefere Bildung und das feinere Naturgefühl. Als der Sohn eines Gutsbesitzers, hat er der Landschaft ihre intimsten Reize abgelauscht, als Student in Berlin sich ernstliche Kenntnisse angeeignet. Aber vorerst arbeitet das Kunstbewußtsein in ihm noch sozusagen unausgesprochen; es ist nur Instinct. Der Zweck bleibt die Hauptsache; er besteht in dem Kampfe gegen das Institut der Leibeigenschaft.

Turgenjew wird von dem Einflusse Gogol’s durch einen Zwischenfall losgelöst, welcher auch wieder auf Gogol zurückführt. Er hat dem verstorbenen Meister einen Nachruf gewidmet und ihn darin einen „großen Mann“ geheißen. Dafür soll er auf Befehl des Czaren für vier Wochen in Arrest gesteckt, dann für zwei Jahre in’s Innere Rußlands verbannt werden, und nur vermöge einflußreicher Fürsprache wird die Strafe in Verbannung nach dem Auslande verwandelt. Da geht er nach Baden-Baden, sinnend und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_578.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2022)