Seite:Die Gartenlaube (1881) 580.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

waren die russische Nation, und unter der Führung Herzen’s und Bakunin’s, deren Commando sie auf hunderte von Meilen vernahmen, hatten sie sich inzwischen zu einer furchtbaren Armee gesammelt, welche, unfaßbar, insgeheim dem Staate den Krieg machte, die Gesellschaft mit revolutionären Elementen durchsetzte, die Jugend unwiderstehlich an sich zog. Das neue Rußland stand kampfbereit dem alten gegenüber – „das achtzehnte Jahrhundert,“ schrieb der Dichter Bestuschew, „zieht uns an den Knieen zur Erde, das neunzehnte an den Ohren in die Höh’.“

Den Augen des Poeten enthüllte sich dieses Schauspiel des Kampfes zwischen „Vätern und Söhnen“ in seiner ganzen schauerlichen Größe; die künstlerische Hand, des Gestaltens froh, griff unwillkürlich nach diesem Stoffe, und der Roman „Väter und Söhne“ war nicht blos ein Ergebniß der Beobachtung, sondern die erste plastische Verlebendigung des revolutionären Geistes, der Rußland aufwühlt. In diesem Roman ist der Nihilismus zum ersten Male beim Namen genannt und nach seinem innersten Wesen erklärt worden.

Unter den feingezeichneten dichterischen Gestalten Turgenjew’s hat in „Väter und Söhne“ als Vertreter des alten Rußland Paul Kirsanow, der Edelmann, als derjenige des jungen Rußland aber Bazarow, der Student der Medicin, eine Rolle zuertheilt erhalten. Auf dem Gute, auf welchem Paul bei seinem Bruder lebt, gerathen sie zusammen, da Bazarow als Freund des jungen Arkad Kirsanow seine Ferien auf diesem Gute verbringt.

Und zwischen ihnen werden die berühmten Dialoge geführt, durch welche Europa zuerst von dem Nihilismus genauere Kunde erhielt. So zwischen Paul und Arkad.

Paul: „Was ist denn eigentlich Herr Bazarow, Sohn?“

Arkad: „Was er ist? Soll ich Ihnen, lieber Onkel, sagen, was er eigentlich ist?“

Paul: „Thu’ mir diesen Gefallen, mein theurer Neffe.“

Arkad: „Er ist ein Nihilist.“

Paul: „Ein Nihilist? Das Wort muß von dem lateinischen nihil = nichts abstammen, so weit ich es beurtheilen kann, und bedeutet mithin einen Menschen, der – nichts anerkennen will.“

Arkad: „Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der ohne vorherige Prüfung kein Princip annimmt, und wenn es auch noch so sehr im Ansehen steht.“

Dann ein Dialog zwischen Paul und Bazarow:

Paul: „Die Deutschen sind nicht mein Geschmack. Vormals waren sie noch erträglich; sie hatten bekannte Namen, einen Schiller und Goethe zum Beispiel. Jetzt aber gewahre ich unter ihnen nur Chemiker und Materialisten.“

Bazarow: „Ein guter Chemiker ist zwanzigmal nützlicher, als der beste Poet.“

Paul: „Wirklich? Die Kunst scheint also für Sie eine gänzlich werthlose Sache?“

Bazarow: „Die Kunst Geld zu gewinnen und die Hühneraugen gründlich zu vertreiben – –“

Paul: „Vortrefflich! Wie Sie zu scherzen belieben! Das kommt auf eine verständige Negation hinaus. Sie glauben also nicht an die Wissenschaft?“

Bazarow: „Ich habe schon die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich an gar nichts glaube. Was verstehen Sie unter dem Worte Wissenschaft im generellen Sinne? Es giebt Wissenschaften, wie es Handwerke, wie es Professionen giebt. Eine Wissenschaft in dem Sinne, den Sie ihr beilegen, giebt es nicht.“

Ein anderes Mal:

Paul: „Ich begreife nicht, wie es möglich ist, keine Principien, keine Regeln anzuerkennen. Wodurch lassen denn Sie sich im Leben leiten?“

Bazarow: „Unser Handeln bestimmt nur die Rücksicht auf das Nützliche. Heutzutage scheint es uns nützlich, zu verneinen – und wir verneinen.“

Paul: „Alles?“

Bazarow: „Durchaus Alles!“

Paul: „Wie? Nicht nur die Kunst, die Poesie, sondern …“

Bazarow: „Sondern Alles.“

Paul: „Erlaubt, Ihr verneint Alles, oder um mich genauer auszudrücken, Ihr reißt Alles ein, aber man muß auch wieder aufbauen.“

Bazarow: „Das geht uns nichts an; vor allen Dingen muß der Platz abgeräumt werden.“

Hier ist das Wesen des Nihilismus unbarmherzig aufgedeckt in seiner ganzen jammervollen Unfruchtbarkeit, aber der Poet, der sein Vaterland liebt, weint über diese Verirrung der russischen Jugend. Noch kann er nicht glauben, daß es mehr als Worte sind; denn dieser Bazarow ist ja sonst ein sympathischer Mensch. Oder wäre es nicht eine Blasphemie, wenn er ausruft: „Ich meinestheils gebe nicht einen Groschen für Rafael!“ – Wäre es Ahnung einer entsetzlichen Zukunft, wenn der Dichter seinem Helden das Wort in den Mund legt: „Ein Kreuzerlicht genügte, um die ganze Stadt Moskau in Brand zu stecken“?

Turgenjew hat es mit diesem Romane Niemandem recht gemacht; denn die Gegner des Nihilismus verargten es ihm, daß er für Bazarow Partei nahm, die Nihilisten, daß er ihre Nichtigkeit so rücksichtslos preisgegeben. Und doch hat er gezeigt, wie scharf sein Blick nicht blos die Gegenwart durchdrang, nein, wie prophetisch er auch die Zukunft vorwegnahm. In dem Romane „Väter und Söhne“ führt uns Turgenjew auch zu einer Nihilistin, Eudoxia Nikitischna Kukschin, welche Champagner trinkt, Cigaretten raucht, George Sand für eine „abgethane Sache“ hält, Liebig zu consultiren und nach Heidelberg zu gehen gedenkt, weil daselbst Bunsen docirt. Doch Bazarow erkennt sie nicht an; er will überhaupt von der Mitwirkung der Frauen an der Arbeit der Nihilisten nichts wissen.

Das ist vorerst noch der theoretische Nihilismus vom Jahre 1861. Worte sind’s, mit welchen gekämpft wird. Und Bazarow endet nicht aus Verzweiflung an Rußland, nicht am Galgen, sondern an einer Blutvergiftung. Damals hätte der Abgrund noch geschlossen werden können. Turgenjew zeigte ihn, damit man sich mühe, dem nahenden Verderben rechtzeitig zu wehren. Er fragte nicht nach Gunst oder Ungunst; er konnte nur hinuntergreifen auf den Grund der Erscheinungen und darthun, daß, so lange ein Bazarow mit der Section von Fröschen sich begnüge, dem Nihilismus durch Zugeständnisse noch beizukommen sei.

Aber man hörte den Dichter nicht, sondern ließ das Uebel ungehindert weitergreifen. Und bald wurde jene Eudoxia zu einer Maschurina, jener Bazarow zu einem Neschdanow. Das Messer, das Frösche secirt hatte, wurde gegen Menschen gezückt; das Weib, welches von Bunsen und Liebig gefaselt, wurde politische Complotirerin, Agentin und Zuhälterin ihrer nihilistischen Cumpane.

Das ist die „neue Generation“.

Es knallen die Revolver; es explodiren die Dynamitbomben; es ist eine regelrechte Verschwörung über ganz Rußland verbreitet, und zahllose Opfer fordert dieselbe von Staat und Volk.

Der Dichter ist ein Idealist; er wähnt noch immer, daß edlere Triebe in den Nihilisten stecken, welche nur leider nicht emporkeimen durften; es ist bezeichnend, daß Neschdanow, der Held des letzten Romans, in dem Briefe, den er vor seinem Tode schreibt, auf Puschkin zurückkommt und auf den poetischen Lensky in dessen „Eugen Onägin“. O hätten doch diese Jünglinge nicht das Ideal der Freiheit befleckt durch den Mord!

Aber der Unmuth ist in die Seele Turgenjew’s eingezogen, und er nennt das russische Volk das „verlogenste der Erde“.

Hat er Recht? Durch ihn lernte Europa das russische Volk kennen; er ist ein Weiser und zugleich der Bote, welcher den Einen von den Anderen Kunde bringt. Ein solcher Bote war auch Goethe. Wenn Turgenjew’s Zorn berechtigt wäre, so hätte Rußland nichts verdient als den Nihilismus, das russische Volk nichts, als auch vom Nihilismus vergiftet zu werden. Aber Völker werden nicht leicht vergiftet, selbst nicht durch eine Regierung, welche den Nihilismus aus der Tiefe emportrieb.

Bazarow, Neschdanow – sie fallen unter den Tisch, das russische Volk bleibt. Wenn Knaben gegen den Despotismus streiten, so behält die schlechte Sache immer den Sieg. Aber es kommt ein Tag, da das Volk selbst sich zum Kampfe rüstet, und dann ist ihm der Triumph gewiß. Dann aber giebt es keinen Nihilismus mehr; dann wird nicht blos eingerissen, sondern auch aufgebaut. Dann aber lebt vielleicht auch Iwan Turgenjew nicht mehr, um die dritte Revolution in Rußland zu schildern. Die erste hat er in dem Roman „Väter und Söhne“, die zweite in dem Roman „Neuland“ dargestellt, jene künstlerisch, objectiv, weil er noch mit ihr sympathisiren durfte, die andere chronistisch, ohne Gleichmaß, weil er sie verabscheuen mußte.

Wenn der Roman, ohne es zu wollen, zur Weltgeschichte wird, so hat er das Beste erlangt, was er als poetisches Kunstwerk an Ruhm und Bewunderung nur immer erstreben mag. Die beiden Nihilistenromane Turgenjew’s sind aber Weltgeschichte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 580. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_580.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)