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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


20.

„Höher hinauf, Lois!“ sagte Jana zu ihrem Bruder, der auf der Trittleiter stand und schwere Laubguirlanden über dem Mittelfenster des Terrassenzimmers befestigte; „es macht sonst zu dunkel.“

Lois folgte der Weisung.

„Es sind nicht Deine Kränze, die das Zimmer verdunkeln,“ sagte er dann im Niedersteigen. „Sieh nur den Himmel an!“

Sie trat näher und blickte nach dem Gewölk, das in fliegender Eile einherzog. Fast in demselben Moment klappten die geöffneten Fensterflügel zu; unheimliches Rauschen ging durch die Luft, und ein feiner, gelblichgrauer Wolkenstreif fiel wie ein Schleier über den Gipfel des Heiteren Lahn.

„Gut, daß unsere Reisenden erst nach einigen Stunden eintreffen!“ meinte Jana. „Der Scirocco ist im Anzuge.“ Sie schloß eilig das wieder auffliegende Fenster, zu dem ein Gluthhauch hereindrang.

Lois schwieg. Sein Auge hing unverwandt am Himmel, der ein eigentümliches Schauspiel bot. In Form und Farbe unaufhörlich wechselnd, jagte eine Heerschaar von Wolken vorüber, kupferfarbig, grünlichgrau, kiesschwarz, mitunter von weißlichen Punkten erhellt, die sich wie riesige Schneeflocken auf den schwer dahinwogenden Massen zu schaukeln schienen. Nebel flatterten über die Wälder, und hinter den Bergen drohten dunkle Gewalten bis eines der Gebirgshäupter nach dem andern von den Wolken gleichsam verzehrt wurde.

Lois wendete plötzlich den Kopf.

„Wo ist Maxi?“ fragte er unruhig.

„In der Mühle. Keine Sorge! Sie bleibt dort bis zur Postzeit – das ist noch lange hin; die Mutter läßt sie auch nicht fort bei solchem Wetter.“

„Und wozu heut in der Mühle?“ fragte Lois ärgerlich.

„Warum läuft sie weg, während Du alle Hände voll zu thun hast? Kann das Mädchen nie zur Stelle bleiben, wo man sie braucht? Du lässest ihr auch allen Eigenwillen.“

„Nun, nun!“ begütigte Jana lächelnd, „wozu ereiferst Du Dich? Vielleicht hab’ ich sie nur deshalb gehen lassen, weil mir ahnte, daß Du kommen würdest. Ihr zankt Euch ja beständig – das ist nicht besonders angenehm für die Zuhörer, und ich möchte mir heut die Laune nicht gern verderben lassen. Scherz bei Seite: warum könnt Ihr Beide Euch denn gar nicht vertragen?“

Lois erglühte. Ohne zu antworten, ergriff er rasch die Trittleiter und trug sie hinaus. Er hatte während verschiedener häuslicher Hülfsleistungen vorhin die Soutane abgestreift und eine leichte Leinwandblouse übergeworfen, die seinen schlanken Wuchs trefflich zur Geltung brachte. Jana sah ihm wohlgefällig nach, war aber erstaunt, als er völlig angekleidet, den flachen runden Hut in der Hand, zu ihr zurückkehrte.

„Du willst doch jetzt nicht fort?“ sagte sie rasch. „Bis Du heimkommst, ist das Gewitter längst ausgebrochen; es wäre doch ein Unsinn, da unterwegs zu sein. Ich dachte überhaupt, Du wolltest Riedegg’s hier erwarten – sagtest Du nicht so?“

„Heut ist mehr im Anzug als ein gewöhnliches Unwetter,“ sagte er und blickte wieder unruhig nach dem fahlen Wolkengetriebe. „Wenn daheim etwas passirte!“

„Was soll passiren?“ meinte Jana gelassen. „Gewitter sind doch keine Seltenheit bei uns; ich begreife nicht, warum Du Dir heute solche Gedanken machst. Nein, ich lasse Dich nicht fort, brauche Dich auch noch bei meinen schönen Einrichtungen, und Du hast ja nichts zu versäumen. Komm, setz’ Dich, und laß uns ein wenig plaudern! Schau’ mir vor Allem nicht gar so ernsthaft drein! Ich bin so freudig: meine Feiertage brechen an.“

Lois legte schweigend den Hut weg, setzte sich zu Jana und sah sie an. Ihr liebes Gesicht war wirklich von Freude wie beleuchtet. In plötzlicher Bewegung ergriff er ihre Hand und drückte sie warm:

„Gute, genügsame Seele!“

„Genügsam, während ich vollauf habe? O Lois, es giebt so viel Schönes auf der Welt, so viel Liebes zu tun alle Tage! Und dazu noch in jedem Jahr auf solche Festtagszeit warten, sie dann erleben zu dürfen, wie herrlich ist das! Um nichts gäb’ ich schon die Vorfreude hin, und wenn sie dann Alle kommen und ich fühle, daß ich zu ihnen gehöre, mich an diesen drei Menschen erlaben darf die ihres Gleichen nicht haben – sollt’ ich da nicht glücklich sein? Und dieses Jahr habe ich Dich dazu nach langer Entbehrung.“

„Mich –“ sagte Lois und sah zu Boden.

„Meinst Du, Dein Ernst könnte meine Freude stören? O nein! Ich möchte Dich nicht anders, jetzt, wo Deine Weihen so nahe sind. Dieses Warten auf ein Höchstes muß Dich ja von Menschen und Dingen abziehen; ich begreife Dein Innenleben und wie Du jetzt dahin zurückgezogen bist, wie in eine heilige Einsiedelei.“

Lois stand rasch auf und trat wieder an das Fenster. Schweres Dunkel überschattete plötzlich das große Zimmer; es krachte, als wolle das Haus einstürzen sammt dem Berge, der es trug. Der Horizont brannte von Blitzen, die meilenweit durch das schwarze Gewölk zuckten. Es heulte um die Waldecke – der Kampf der Gegenwinde begann.

„Wie sich’s bei dem Sturme wohl drüben in der Einsiedelei hausen mag?“ warf Lois hin.

„Wie bist Du doch heute!“ sagte Jana und blickte besorgt nach dem Bruder. „Komm’ – ich möchte mit Dir über etwas reden, das mir sehr am Herzen liegt. Es hätte früher geschehen sollen, aber ich kann mir schon denken, wie Du mir rathen wirst, und weil es mir schwer fällt, dem Rat dann zu folgen, und es doch wird sein müssen – darum verschob ich’s immer. Jetzt ist es aber die höchste Zeit, denn man kommt so leicht nicht dazu, unter vier Augen zu sprechen, wenn die Andern da sind. Deshalb hab’ ich eigentlich heut die Maxi fortgeschickt.“

Lois setzte sich seiner Schwester ganz nahe.

„Nun?“ fragte er gespannt, ohne sie dabei anzusehen.

„Es ist wegen der Maxi. Schau, ich wollt’ es Dir nicht Wort haben, Du hast aber ganz Recht: das Kind hat nirgend Rast und Ruh’, und ich mache mir Gedanken darüber, ob es gut ist, sie länger hier zu lassen. Launisch und ungestüm ist sie ja immer gewesen, so wie jetzt aber nie. Es mag ihr allzu einsam vorkommen – so allein mit mir das ganze Jahr. Was hat sie auch viel zu thun? Bei ihren Kränzen und Blumen läßt sie’s an Eifer nicht fehlen, verdient sich auch manchen Gulden dabei; die alte Thresl, der wir den Verkauf lassen, rühmt immer, wie Jedes nur ein Kränzel von der Maxi haben will. Aber gerade das Stillesitzen ist nichts für sie, und kein Wunder, wenn sie jeden Vorwand benutzt, um sich davon zu machen. Weißt Du, es war vielleicht doch gefehlt, daß ich ihr alles beibrachte, was ich selber gelernt hab’; ist wenig genug, lauter Zusammengestoppeltes – ich meinte aber ihr damit das einsame Leben abwechselnder zu machen und hab’ sie vielleicht nur unzufrieden damit gemacht. So dacht’ ich denn, ob es nicht geratener wäre, die gnädige Frau zu bitten, daß sie das Kind mitnimmt und zum Dienst für sich verwendet; sie muß ja doch in dem herrschaftlichen Hause Jemand der Art haben. Dann hab’ ich aber auch wieder Bedenken; ich weiß wenig genug von der Welt draußen, kenne sie eigentlich nur aus den Geschichten, die in Büchern stehen, aber die Maxi ist jetzt achtzehn Jahr alt, und sie ist so schön, daß alle Leute sie darum berufen. Das könnte ihr Gefahren bringen, wenn ich sie fortgebe. Nun sprich, was meinst Du?“

Lois zuckte die Achseln.

„Welchen Rath verlangst Du? Geistlichen oder weltlichen? Darauf wird es ankommen,“ sagte er mit einer Schärfe, die seine Schwester befremdete.

„Ich verlange den Rath meines lieben Bruders, der uns kennt,“ erwiderte sie sanft.

„Dann laß sie, wo sie ist! Was wird aus Dir werden, wenn Du auch noch Dein Letztes fortgiebst? Daran hast Du natürlich bei der ganzen Frage nicht gedacht, wie gewöhnlich – die Andern, das ist Dein Dogma. Willst Du nun gar todteinsam hier sitzen bleiben in dem alten Gemäuer und auch dann noch in Heiterkeit auf die vier oder sechs Wochen warten, wo Du Mensch unter Menschen, Deines Gleichen sein darfst? Unsinn! Laß das Mädchen hier – sag’ ich. Sie soll sich zusammennehmen, wie das Jeder muß; zwischen Fremde taugt sie ganz und gar nicht hinein, und – was Du zuletzt sagtest, Dein Bedenken, wiegt tausendmal schwerer, als ihre Langeweile.“

„Du meinst?“ rief Jana ganz glückselig. „O, wenn ihr damit kein Unrecht geschieht, so bleibt sie da. Wenn Du mir nur ein wenig helfen möchtest, Lois; ich hatte so viel von Deinem Einfluß, von der Zeit erwartet, wo sie die geistliche Autorität bei Dir erkennen würde, – auf die Art, wie Du mit ihr umgehst,

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