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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

bringt man sie aber zu nichts. Du bist immer herb – da steift sie sich, statt nachzugeben, und es ist ja sonst auch gar nicht Deine Art. Wie gern hattest Du sie, so lange sie klein war!“

„Was giebt es?“ rief Lois statt zu antworten und horchte gespannt auf Stimmen, die unten im Hause vernehmlich wurden Zugleich drang der Laut ferner Glocken schwach durch die geschlossenen Fenster. Eilige Schritte liefen treppauf; das Hausmädchen stürzte athemlos herein und stammelte:

„Der Alpbach kommt.“

„Herrgott!“ rief Lois erblassend. „Ist’s wahr?“

„Gerad’ ist der Knecht mit dem Wasserfaß heraufgefahren, der sagt’s. Drunten ist schon alle Welt unterwegs nach Lahnegg und dem Mühlthal – es soll arg sein.“

Jana stützte sich zitternd an den Tisch.

„Maxi – die Mutter –“ kein weiteres Wort kam aus der zusammengeschnürten Kehle.

Lois hatte sich schon den Hut aus den Kopf gedrückt.

„Ich schicke Nachricht,“ sagte er mit hastigem Händedruck.

„Den Knecht nehme ich mit. Bleib’ Du mit der Magd ruhig hier. Ich bitte Dich. Vielleicht bring’ oder schicke ich Dir bald Einquartierung, die Deiner bedarf. An Ort und Stelle können Weiber vorerst nichts helfen.“

Er war hinaus. Jana lief zum Treppenfenster, das nach der Landstraße ging. Nach so kurzer Zeit, daß sie nicht begriff, wie er inzwischen den Berg hinabgekommen, sah sie ihren Bruder mit wehender Soutane, den Hut in der Hand, davon eilen und dann, wie vom Winde vorwärts getrieben, ihren Augen entschwinden. Von allen Seiten her liefen Leute über die Felder der gleichen Richtung zu, ohne Regen und Sturm zu beachten. Es donnerte nicht mehr, durch die Luft ging es aber wie gespenstisches Stöhnen und Klagen, das mitunter zu wildem Getöse anschwoll, um endlich hohl und dumpf an den Felswänden zu ersterben. Die Glocken aller Kirchtürme der Thalbuchten wimmerten gleich bangen Hülferufen.

Lois fand sich in seinem Vordringen alle Augenblicke durch Leute aufgehalten, die Wagen und laut blökendes Vieh über den Weg trieben. Einzelne Anrufe, die er nur halb verstand, drangen erschreckend an sein betäubtes Ohr; scharfer Erdgeruch durchdrang die Luft. Dann erblickte sein Auge die schaurige Zerstörung, die er im Geiste vorhergesehen, in Wirklichkeit: Lawinengleich war der Wildbach vom Hochthale niedergetost, erst durch steile Felswände in enger Rinne festgeklemmt, dann in wütender Freiheitsgier seine Ufer überfluthend, Furchen wühlend, Erdhaufen türmend, Steine und Felsblöcke unaufhaltsam mit sich reißend.

Als Lois zwischen verheerten Feldern seinem Vaterhause zustrebte, sah er das ziemlich hochliegende Gebäude zwar unversehrt, die Mühle war aber zertrümmert – wo sie gestanden, hatte das Unwetter eine tiefe Schlucht aufgewühlt, die gleichsam ein Becken für die Gefälle bildete. Hoch schäumend brauste dort der Gischt, nicht schimmernd weiß, wie sonst. Das von all dem Schutt, den Erdklumpen, die es mit sich niedergerissen, in eine mißfarbige, breiartige Masse verwandelte Wasser wälzte sich schwerfällig und dennoch gewaltsam vorwärts und spielte Fangball mit Trümmern und riesigen Felsstücken, die es gleich Sandkörnern in die Höhe schleuderte. Trüber Dampf stieg daraus auf, hing darüber, als wären unterirdische Dämonen losgelassen und hätten den Brodem mit sich gebracht, in dem allein ihnen zu atmen möglich. Weinreben sammt ihrem Spalier, in der Mitte geborstene Bäume, Kreuze von den Gräbern des Friedhofes, Bauhölzer und Stroh – all das schoß wild durch einander. Zwei der Stege waren spurlos verschwunden; der dritte, entlegenste stand noch, da er nur einen zum Betrieb der Lahnegger Mühlen abgeleiteten Arm des Baches überdachte, dessen Hauptströmung sich mehr zur Linken fortgewühlt.

Lois erschrak, als er durch den Regenschleier, der auf fünfzig Schritte weit kaum etwas unterscheiden ließ, eine menschliche Gestalt auf dieser schwanken, durch jede nächste Secunde bedrohten Brücke zu erkennen glaubte. Unmöglich war es, sich von hier aus der Stelle direct zu nähern; es bedurfte dazu eines zeitraubenden Umweges. Vergebens blickte er nach dem Knecht aus, den er von der Moosburg mitgenommen, der aber weit hinter ihm zurückgeblieben war. An Thür und Fenster des Hauses zeigte sich keine Seele. Wollte er retten und helfen wo es zunächst Not that so galt es keine Zeit zu verlieren. Den Hebungen und Senkungen des Thalbodens folgend, den er so genau kannte, eilte er, einen belaubten Hügel zu gewinnen, der fast parallel mit dem Stege stand. Und von diesem Hügel aus unterschied er Formen und Züge der von rettungslosem Untergange bedrohten Gestalt, unterschied Maxi’s dunklen Kopf, ihre Arme, die das Geländer umklammert hielten.

Sie mußte betäubt oder ganz erschöpft sein; kein Laut, kein Hülferuf ging von ihr aus. Lois preßte die Lippen fest auf einander. Mit dem scharfen Blick eines Kindes der Gebirge überflog er das Terrain. Die von hier aus erwartete Verbindung mit dem Stege war zerstört; auch dieser sonst nur hinfädelnde Arm des Alpbaches weit über sein enges Bett getreten. Der fest eingerammte Pflock, welcher das diesseitige Ende des Brettes trug, stand unter Wasser, und bis die andere Seite gewonnen war, konnte es zu spät sein. Lois’ Augen glühten; er lief plötzlich den Hügel hinab, kniete, vorn übergebeugt, auf die Gefahr hin, vom Wasser fortgespült zu werden, in Schlamm und Kies des schmalen Bodenstreifens nieder und erfaßte mit seinen nervigen Händen eine heranschwimmende Stange.

Nun erst, als er sich ausrichtete, rief er in starkem Ton: „Maxi!“ Er sah, wie sie zusammenfuhr und sich jäh umwandte. „Laß das Geländer nicht los! Rege Dich nicht!“ rief er ihr zu und schritt, den Grund mit der Stange prüfend, festen Fußes durch das ihm bis über. die Schultern reichende schäumende Wasser dem Steg entgegen.

Sie regte sich nicht. Den Kopf zurückgeworfen, stand sie wie eine Säule, die leuchtenden Augen fest auf Lois geheftet, der sich nach wenigen Minuten kräftig zu ihr emporschwang.

„Du!“ athmete sie nur und warf beide Arme um ihn. Er hob sie wie ein Kind aus seinen linken Arm und ging, die Stange in der Rechten, scharf aufmerkend, dem anderen Ende des Steges zu. Zwei, drei Schritte – da fühlte er das Brett unter feinen Füßen schwanken und krachen.

„Heiliger Gott!“ Der Seufzer ging mehr gedacht als gesprochen über seine Lippen; zugleich klang es wie Frohlocken in sein Ohr: „Mit Dir!“ Ein Kuß glühte auf seinem Munde. Da barst das Brett. Er umklammerte es im Sinken, auch Maxi erfaßte es instinctiv mit einem ihrer Arme, während der andere fest um Lois’ Hals geschlungen blieb. So schwammen sie einher, mit rasender Eile vom tiefer gehenden Wasser getragen, stets in Gefahr von einen Wirbel erfaßt, von einem entwurzelt dahinschießenden Baumstamme zerschmettert zu werden – Beide willig und bereit zum Sterben, Lois vielleicht mehr noch als das Mädchen, dessen Arm seinen Nacken umschlung, dessen Kuß noch auf seinen Lippen brannte.

Der Tod will aber selten die, welche ihn willkommen heißen. Nicht der entfesselten Hauptströmung zu – rettendem Ufer entlang trieb das leichte Brett, das seine Bürde nicht hatte tragen wollen und sie nun doch dem Leben entgegen trug. Der Strand wimmelte weiter hin von Menschen, und von einer kleinen vorspringenden Landzunge aus zog ein Wurfhaken, an dem ein Seil befestigt war, die Gefährdeten glücklich an das Land.

Maxi hatte nicht einen Moment das Bewußtsein verloren, und als sich Beide, von teilnehmenden Leuten umdrängt in ein nahes Wirtshaus bargen, um vor Allem trockene Kleider zu erhalten da sagte Maxi: „Gelt, Lois, nachher gehen wir zur Mutter. Sie ist daheim, und es ist ihr nichts geschehen aber der Schreck! Wir müssen gleich hin.“

Lois nickte stumm. Ehe er die Scheune betrat, gab er einem Buben den Auftrag, sogleich nach der Moosburg zu laufen und dort auszurichten, sie wären Alle geborgen.

Eine kurze Weile nachher traten die kaum Geretteten den verabredeten Weg an. Lois hatte keine Ruhe; es drängte ihn zu seiner Mutter, welche, nach schwerer Krankheit kaum in der Genesung, so großen Schrecken schwerlich ohne Schaden ertragen haben mochte. Maxi stand auch schon bereit, als er aus dem Wirthshause heraustrat. Sie hatte ein weißes Tuch über ihr zum Trocknen aufgelöstes Haar geworfen; die Hülle bedeckte nur den Scheitel, die blauschwarzen Strähne aber hingen schwer bis zu den Knieen nieder. Das Wirthstöchterchen hatte ihr einen Anzug gegeben. Lois trug die Sonntagskleider des Knechtes; so machten sich Beide auf den Weg.

Der grausige Wassersturz hatte kaum eine Stunde Dauer gehabt. Wohl brausten und zischten die Gewässer noch, in der Luft war es aber still geworden. Man schweigt zu keiner Zeit tiefer, als wenn man sich unermeßlich viel zu sagen hätte. So gingen Lois und Maxi stumm hinter einander auf dem schmalen hochgelegenen Pfade durch die vom Sturme beschädigter Felder. Etwa

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_619.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)