Seite:Die Gartenlaube (1881) 622.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

aber doch nicht völlig gehoben; denn das Mädchen machte ihr Sorge. Maxi war spät und fiebernd heimgekehrt, und Jana hatte sie zu Bette gebracht, voll Besorgniß um sie wie um die Mutter, die den Schreck zwar momentan leidlich überstanden hatte, deren angegriffene Gesundheit aber schwer dadurch erschüttert sein mochte.

Während Fügen tröstlich zu ihr sprach und ihr zuredete, nach so viel Aufregung doch nun auch die Ruhe zu suchen, saß Genoveva mit ihrem Sohn am Fenster des Eßzimmers, ihrem alten Lieblingsplatze. Die kleine Mahlzeit, welche Jana vorbereitet hatte, war eingenommen worden; über dem Eßtische hing, wie von jeher, die Lampe, aber dort, wo Mutter und Sohn beisammen saßen, drang ihr Licht nicht hin; sie saßen im schwachen Zwielicht der Sterne, welche nun den frei gewordenen Himmel bedeckten. Von Jahr zu Jahr empfing Siegmund von seiner Mutter den gleichen Eindruck: daß sie herrlicher, unvergleichlicher sei als je zuvor. Sobald sie bei ihm weilte, verschwand ihm Alles; was nicht sie war, verlor Farbe und Nähe; er fühlte sich unwiderstehlich von ihr angezogen; ihre dunklen Augen, die nur für ihn den Ausdruck stolzer Ruhe in den der Zärtlichkeit veränderten, trafen sein innerstes Herz und öffneten es weit. Als sie heute Nachmittag in das kleine, dürftige Gasthofzimmer getreten war, schien ihm dieses plötzlich in einen vornehmen Raum verwandelt; seiner Mutter bloße Erscheinung beherrschte jede Sphäre. Und wie sie ihm nun hier gegenüber saß, den edlen Kopf leicht zu ihm vorgeneigt, und mit der leisen melodischen Stimme nach seinem Leben und Sein fragte, da strömte ihm alles, was zu sagen er sich so schwer gedacht, wie von selbst aus der entfesselten Seele. Alles, was er durchgekämpft, was er aufgab und begehrte, kam ihm zu neuem, tieferem Bewußtsein. Alle Schwere war gleichsam aus ihm hinweggezaubert; nur Hoffnung, Liebe und Freude beschwingten sein Gemüth.

Und Genoveva? Sie trank die Seele des Einzigen, den sie auf Erden liebte, wie nur die Kraftvollen zu lieben im Stande sind, dürstend in sich, und wenn auch ihr Entscheiden über alles, was er in ihren Willen legte, bis morgen verschoben blieb - Genoveva entschied seit langen Jahren nie unter dem Eindruck des Augenblickes – so fühlte Siegmund doch, daß sie ihm nicht entgegen war. – –

(Fortsetzung folgt.)




Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.[1]

3.0 Die staatliche Hygiene im Kampfe mit dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen und der Gemeinde.

Noch jetzt trägt in den europäischen Staaten – England allein ausgenommen – die auf die öffentliche Wohlfahrt abzielende Gesetzgebung den Stempel der Gelegenheitspolizei. Wo erst ein schreiender Uebelstand das allgemeine Aufsehen erregt und die Noth allein die Erfinderin hygienischer Maßregeln bleibt, da ringt nur Schritt für Schritt und mit äußerster Langsamkeit das Oberhoheitsrecht des Staates dem Eigenthums- und Verfügungsrecht des Einzelnen diese und jene gesetzliche Feststellung ab. Noch weniger kann uns der Widerstand der Gemeinden Wunder nehmen, den sie gegen kostspielige Neuerungen auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege stets in Bereitschaft haben. – Um die Anwendung der einzig erfolgreichen Waffen in diesem Kampfe, der Belehrung und der Hebung des allgemeineren Interesses für unseren Gegenstand, haben sich die zahlreichen hygienischen Vereine ein großes Verdienst erworben.

Allen voran zeichnet sich durch seine ganz Deutschland einmüthig umfassende Anregung der mehr als 1200 Mitglieder zählende „Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ aus, der seine jährlichen Wanderversammlungen von Frankfurt nach Dresden, von Nürnberg nach Hamburg, von Stuttgart nach Wien, kurz überall hin ausdehnt, wo Nachahmenswerthes an der Quelle zu studiren, ein wichtiger Zweifel zu lösen, eine gemeinnützige Anregung zu geben ist. Auf kleinere örtliche Kreise beschränkt, wirken in gleichem Sinne der niederrheinische Verein, derjenige für Elsaß-Lothringen, die Vereine zu Hannover, Nürnberg, Magdeburg, Erfurt, Bremen, Nordhausen, die Section für öffentliche Gesundheitspflege der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur und die deutsche Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege zu Berlin. An Zeitschriften für Fachkreise bestehen zur Zeit acht, die jede Richtung zur Genüge vertreten.

Dagegen geschieht in jenen Theilen des Vaterlandes, wohin jene Bestrebungen nicht reichen, noch gar wenig für die Verbreitung richtiger Vorstellungen und hygienischer Kenntnisse unter dem größeren Publicum. In den Schulen wird die Gesundheitspflege nicht gelehrt; die Zeitungen bringen nur selten eingehende, noch seltener gute Artikel über Gegenstände derselben. Die sparsamen populären Schriften aber bewegen sich mit wenigen Ausnahmen einestheils im Kreise abgestandener Beweise für die Nützlichkeit der Lehre, zum anderen Theile auf dem gefährlichen Boden der „Volksbeglückung“.

Für die besser situirten Gesellschaftsclassen liegt sogar eine bedenkliche Irrlehre in der Art, wie man häufig den privaten Comfort mit den wirklich wichtigen Interessen der Hygiene auf die gleiche Stufe gestellt hat. Es ist außerordentlich schwierig, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem für die Gesundheit Schädlichen und jenen Belästigungen, die unser Wohlbefinden und unseren Lebensgenuß stören. Namentlich fassen wir widerwärtige, mit unangenehmen Vorstellungen verknüpfte Geruchs-, Gesichts- und Geschmacks-Wahrnehmungen oft fälschlich als lebensgefährliche Bedrohungen auf.

Wir verlangen, daß man auf gesetzgeberischem Wege mit aller Energie und mit großen Kosten solche Einflüsse aus unserer Nähe entferne, und übersehen bei unserer Empfindlichkeit, daß sie nur durch die Civilisirung und durch die Verfeinerung des Lebensgenusses uns so gefährlich erscheinen, daß wir heute als dringendsten Gegenstand der staatlichen Ueberwachung betrachten, was unsere nächsten Vorfahren in ihren Häusern und Gassen noch mit Gleichmuth ertrugen. Hier wird also leicht zu weit gegangen: in Trockenheit oder Feuchtigkeit, in Reinlichkeit oder Schmutz, in Behagen oder Mißbehagen geht das Wesen der öffentlichen Gesundheitspflege nicht auf. Jeder, der aus seiner mit Peinlichkeit sauber und geruchfrei gehaltenen Stadtwohnung sich in gewisse eigenartige Verhältnisse mancher für besonders „gesund“ geltenden Sommerfrischen begiebt, konnte zwischen liebgewordenen Gewohnheiten und dem zur Gesundheit schlechterdings Nothwendigen unterscheiden lernen. Es läßt die Urtheilsfähigkeit unserer Nation, auf welche wir gewohnt sind uns etwas zu Gute zu thun, in keinem günstigen Lichte erscheinen, daß es nicht die hygienisch nachweisbaren Unzulänglichkeiten sind, die den gebildeten Theil des deutschen Publicums am meisten empören und auf Abhülfe dringen lassen, sondern diejenigen, an welche eine ekelerregende Vorstellung geknüpft wird. Für den Credit und die wahren Erfolge der staatlichen Gesundheitspflege aber liegt eine gewisse Gefahr darin, daß sie Stützen ihrer Bestrebungen in der übermäßigen Verfeinerung und in der bis zur Verzärtelung gehenden Empfindlichkeit der Sinnesorgane suchen solle. Sie würde so zum Gegensatze dessen führen, was sie unter der Devise „ein starkes und widerstandsfähiges Volk“ in Wahrheit erstrebt; sie würde den Vorwurf verdienen, die Gesellschaft zu einer Schaar hülfsbedürftiger Schwächlinge, die Welt zu einem großen Hospital zu machen.

„Auch ich meine allerdings,“ spottete bereits Goethe mit einem Seitenblicke auf gewisse schwärmerische Philanthropen des vorigen Jahrhunderts, „daß die Humanität einst siegen wird, aber ich besorge zugleich, daß alsdann der Eine nur noch des Andern humaner Krankenwärter sein werde.“

Gleichzeitig kann nun aber nichts Nutzloseres gedacht werden, als dem darbenden und entbehrenden Theile der europäischen Menschheit lediglich wiederholt vorzupredigen, daß es gesundheitswidrig sei, sich Schädlichkeiten auszusetzen, die gewissen Erwerbszweigen untrennbar anhaften. Es klingt fast wie Ironie, wenn fortwährend davon die Rede ist, daß man luftig wohnen, viel baden, nur nahrhafte und auf etwaige Schädlichkeiten vorher untersuchte Nahrungsmittel genießen solle, wo Obdach und Nahrung an sich bereits den

höchsten Preis des unbarmherzigen Lebenskampfes bilden. Wer

  1. Vergl. Nr. 25 und Nr. 29.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_622.jpg&oldid=- (Version vom 7.10.2022)