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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

wunderthätige Stellung gegen eine wahre Culturstellung aufzugeben. Mancher Praktiker wird sein gewichtiges Haupt schütteln und es unbegreiflich, ja lächerlich finden, daß er, statt an den Puls zu fassen, an die Zunge zu tasten und auf seine Schnupftabaksdose zu klopfen, von den ewigen Gesetzen der Natur nicht blos Kenntniß nehmen, sondern sie auch Anderen überliefern und beweisen“ – ja, wie wir jetzt fordern müssen, aus ihnen richtige Vorbeugungsmaßregeln ableiten – „soll.“

Diese Verhältnisse haben sich innerhalb der verflossenen zweiunddreißig Jahre unverkennbar zum Besseren geändert: der Staat darf heute die Aerzte im Kampfe für die hygienischen Interessen sicher als seine Bundesgenossen betrachten.

Aus jedem Bündniß entstehen aber auch Verpflichtungen, und es fehlt nicht an Stimmen, welche für eine nachhaltige Belebung jener Interessen die Einrichtung staatlicher Unterrichtsinstitute für hygienische Zwecke fordern. In Deutschland wird jetzt die Hygiene zwar an den meisten Universitäten gelehrt; besondere Lehrstühle für dieselbe bestehen jedoch bis zur Stunde nur an den bairischen Universitäten, und mit allen notwendigen Lehrmitteln ausgerüstete Institute nur drei: das altberühmte Pettenkofer’sche Institut zu München, in welchem von weit und breit besuchte Curse gehalten werden, die hygienische Universitätsanstalt zu Leipzig und die 1871 in’s Leben getretene chemische Centralstelle für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden. Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, daß die weitere Organisation solcher Fachanstalten mit zu den wesentlichsten Hülfsmitteln für die gedeihliche Entwickelung der Staatsgesundheitspflege gehört.“

Wir dürfen hoffen , dem Leser eine annähernd richtige Auffassung angebahnt zu haben für die Schwierigkeiten, mit welchen die Einführung einer staatlichen Regelung der Hygiene bei uns in Deutschland zu rechnen hatte. Doch sind absichtlich nur diejenigen Punkte berührt worden, welche am leichtesten aus dem Gesichtskreise des allgemeinen Verständnisses entschwinden und am ehesten zu dem Mißverständniß führen, es handle sich bei Errichtung eines Reichsgesundheitsamtes um nichts anderes als um die nöthigen Geldmittel und die Beachtung bereits gemachter technischer Erfahrungen. – Unser nächster und letzter Artikel wird von dem kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin handeln.




Ein Besuch der Goethe-Häuser zu Weimar.
Zugleich ein Mahnruf zur Tilgung einer alten Nationalschuld.

„Es ist ein Licht erloschen,“ waren die Worte, welche mir beständig auf den Lippen schwebten, als ich kürzlich Weimar besuchte, um die Stätten zu sehen, wo einst Goethe wandelte.

„Glücklicher Goethe!“ wird wohl Jeder ausrufen, der in das heimliche und doch so ausgedehnte Paradies des Goethe’schen Gartens am Parke tritt. Da schmiegen sich die Rosen tausendfältig an der weißen Wand bis an das spitze Schindeldach empor; im frischen Grün strecken sich Plan, Wiese, Terrassen, Baumanlagen und Bergesabhang; die schmalen, wohlgesäuberten Wege schlängeln sich durch blumenreiche Beete hin; die Gardinen blicken hinter den kleinen Fenstern hervor, und die niedrige Hausthür mit der einfachen Eisenklinke sieht aus, als müßte sie sich eben öffnen, der Unsterbliche mit dem Siegerblick, dem festen Schritte, dem alles genießenden Lächeln, den von durchwachten Nächten und überwundenen Leidenschaften sein gemeißelten Zügen hervortreten und dich nach seiner Gewohnheit begrüßen.

Aber er kommt nicht, auch sonst Niemand. Einsam ist’s. „Es ist ein Licht erloschen.“

Man wird inne, daß diese Stätte dem Todten geweiht ist: die Wege sind nur für einen Promenirenden eingerichtet; auch die Plätze, welche sich hier im Schatten des Hauses ausweiten, fassen kaum eine traute kleine Gesellschaft von zehn oder zwölf intimen Bekannten. Unwillkürlich fühlt man sich versetzt in Goethe’s glückliche Zeit. Da heißt es aus Christianens Munde:

„Lieber Wolfgang, Herder’s sind da! Komm’ doch ein wenig heraus!“

„Herder’s, heute? Gleich, Christiane! Beschäftige sie einstweilen!“

Auch der Großherzog schreitet dort über die Brücke der Ilm, bei der Borkenhütte unter der künstlichen Burgruine, wo die hohen Pappeln und Fichte sich zu einer breiten Avenue ausdehnen. Es ist ein feierlicher Empfang.

Als ich so dastand, kamen mir Iphigeniens Worte in den Sinn:

„Ach wie beschämt“ gesteh’ ich Dir, daß ich
Dir nur mit stillem Widerwillen diene.“

Die ganze Scenerie ist die der „Iphigenia“ und des „Tasso“. In der That kann man diese beiden Dichtungen erst dann ganz und voll verstehen, wenn man den Ort besucht hat, wo Goethe’s Geist sie mit sich herumtrug, bis er in ein Land ohne Pedanterie und Kleinlichkeit, entwich, um sie zu gestalten, in das Land Alfieri’s, wo selbst die Feder des Dichters zum Meißel wird.

Endlich entdeckte ich ein lebendes Wesen in dieser Todtenstille, wo die Erinnerungen, lautlos weben. Es war ein alter Mann, der dort mit der Hacke den Weg säuberte; den fragte ich, ob einem wohl Jemand die Thüren öffnete.

„Ei, nee Heren Sie. Der Herr Baron hat das streng verboten. Es is Sie och nichts nich im Stande.“

„Sind Sie schon lange hier?“

„Nu, sah’n Sie, ich nich, aber Springer, der Gärtner, der da droben wohnen thut. Und der Großherzog war och egal hier. Es waren Sie zwei sehre gute Menschen, der Karl August und der Goethe. Sie haben viel für’s Volk gethan und verachteten Keinen nich. Geh’n Sie mal ’nauf! Vielleicht, daß er jetzt da is, der Herr Springer.“

Nun, der Herr Gärtner Springer war nicht da, und eine anmuthige junge Frau gab mir abschlägigen Bescheid.

„Ei ja,“ sagte nachher der alte Gartenarbeiter, „es is so, wie ich Sie sagte. Die Grundstücke gehören dem Herrn Baron. Der bewirthschaftet Sie hier die Gärten, ’s kost Geld, viel Geld, Alles im Stande zu halten, und einbringen thun die Häuser och nichts nichs, säh’n Sie. Wo soll’s Alles herkumme?“

„Und darüber geht unserem Volke einer seiner größten Schätze verloren?“ meinte ich.

Der Alte sah mich verdutzt an.

„Der Herr sind wohl gar ein Engländer?“ fragte er; „wenn das is, na, heren Sie, dann kann’s eher möglich sein, daß Sie ’nein kumme. Sie müssen sich mal in’s Stadthaus bemühen. Das sind sehre freundliche Leute, die beiden alten Mädchens bei Geheimraths. Immer, wenn ich mal hinkumme und Salat bringe oder ein Körbchen junges Gemüse, na, dann geben sie mich ein Töppchen Suppe oder ein Schälchen Kaffee, ja, wenn’s übrig is.“

Ich wanderte also durch den Park zur nahen Stadt zurück – und welch eine entzückende Welt liegt zwischen diesen beiden Goethe-Häusern, dem sommerlichen und dem winterlichen! Der Park ist ein Juwel. Die Ilm schlängelt sich hindurch; zahlreiche Quellen springen ringsum theils aus dem Kalkfelsen, theils aus dem Boden hervor, und vom „Stern“ aus gesehen, spiegeln sich die erleuchteten Fenster des großherzoglichen Schlosses Abends in dem Flusse, den hohe Pappeln halb verhüllen. Diese Pappeln und Fichten! Ein wahres Geheimniß von Poesie liegt zwischen ihnen. Da ist eine Avenue von so hohen Bäumen überragt, daß trotz der Breite des Raumes sich die immer regen Wipfel über demselben zu schließen scheinen. Sie mahnen an ihn, an den Dichter, der auch über alle Schranken hinausragt. Und dennoch ist Goethe ein nationaler Dichter, aus deutschem Holz, auf deutschem Boden stehend, wenn auch sein Angesicht von der Sonne fernster Zeiten und Zonen, gleich dem ewigen Alpenriesen, beleuchtet wird. Man muß nur im Auslande lange genug gelebt haben, um zu erfahren, wie sehr wir um diesen einen Mann beneidet werden, wie in ihm das Deutschthum zu Ehren kommt und wie man in ihm einen Geist erblickt, der viel zu praktisch war, um sogleich und schon damals von einer Nation verstanden zu werden, deren Wesen einen fanatischen Haß in Gemüthern wie Hölderlin, Grabbe, Heine erweckte. Ist dieser schonungsvolle, weltmännische Geist Goethe’s erst in Fleisch und Blut des deutschen Volkes übergegangen, dann wird dieses Volk im edelsten Sinne des Wortes die Welt beherrschen, und das ist – so trüb die Aussichten auch zu sein scheinen, – doch nur eine Frage der Zeit, weil diese frühe Blüthe – die Poesie eines Goethe – auf eine spätere in politischer Sinne hinweist.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_624.jpg&oldid=- (Version vom 8.10.2022)