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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Interesse behaupten, daß eines der interessantesten und ehrwürdigsten unserer Altertümer, für die Mehrzahl wenigstens der Oberdeutschen, fast unbekannt ist, eines, welches den ganz einzigen Vorzug hat, daß es nicht vom Staube der Museen oder dem Schutt der Ruine bedeckt, sondern noch heute vom Leben der Gegenwart erfüllt ist – ich meine das niederdeutsche Bauernhaus.

Fast genau so, wie es vor nahezu zwei Jahrtausenden im Schatten seiner Eichen stand, erhebt sich das niederdeutsche Bauernhaus noch heute vor unseren Augen. Dasselbe bemooste Rieddach, in welches der siegreiche Krieger Karl’s des Großen den Brand schleuderte, dasselbe zeichengeschmückte Hofthor, aus dem der Krieger des Hengist und Horsa schritt, um das britannische Land zu erobern, dieselbe düstere, raucherfüllte Diele, in welche der erstaunte Römer zaudernd den Fuß setzte, ja sogar noch dasselbe alte heidnische Zeichen des heiligen Rosses über Herd und Giebel!

Wenn ich so schlechthin vom niederdeutschen Bauernhause spreche, muß ich zuvor eine Scheidung vornehmen, welche auf der natürlichen Gestaltung des niederdeutschen Landes und seiner Eintheilung in Geest und Marsch beruht; denn zwischen der Bauart beider machen sich trotz bestehender Verwandtschaft wesentliche Verschiedenheiten geltend. Da sich aber das Marschhaus, wie wir sehen werden, als Sprößling des alten Geesthauses erweist und dieses den uralten Charakter auf das Treueste bewährt, so muß zunächst die Darstellung diesem, als dem eigentlichen Typus, gelten.

Im Voraus sei jedoch bemerkt, daß, genau wie das Plattdeutsch von District zu District, oft in Zwischenräumen von wenigen Meilen, variirt, so auch bezüglich des Hauses in Einzelheiten Verschiedenheiten je nach der Landschaft hervortreten, daß also das im Folgender ausgeführte Bild den Durchschnittstypus des gesammten niederdeutschen Landes bietet.

Will man die gegenwärtige Grenze des sächsischen niederdeutschen und des fränkischen oberdeutschen Bauernhauses markiren, so kann man wohl sagen, daß diese Grenze sich so ziemlich mit der der plattdeutschen Sprache deckt – freilich ganz bedeutende Ein- und Ausbuchtungen und auch die Districte der Uebergänge mit eingerechnet; denn steigen wir höher in's Land hinauf, so finden wir, daß sich die „Diele“ verengt und zusammenschrumpft; das Vieh verschwindet daraus und kommt in Nebenräume, bis der rein fränkische Bau in sein Recht tritt.

Das niederdeutsche Bauernhaus hat zwar die primitive Stufe der Herstellung aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk, die älteste Form des deutschen Hauses neben dem Blockhause, meist überwunden, ist aber anderntheils noch durchweg beim Fachwerk stehen geblieben. Vor Allem ist aber nun zu constatiren, daß es sich in seiner Gesammtheit wie in seiner Einzelnheiten durchaus vom oberdeutschen unterscheidest und dies zwar besonders in folgenden vier Punkten:

Erstens: Das Haus umfaßt das gesammte zur bäuerlichen Wirthschaft gehörige todte und lebende Inventar; es ist der Inbegriff des ganzen Hofes, des ganzen Besitzthums, und wie sehr dies auch von der Bevölkerung empfunden wird, darauf deutet eine Auffassung, der ich überall begegnet bin. Will nämlich Einer den Besitzstand eines Anderen bestimmen, so bemißt er denselben nach dem Längenmaße des Hauses; denn damit ist z. B., abgesehen von allem Anderen, der Viehstand, welcher die Längsseite der Diele einnimmst zugleich mit angedeutet.

Die zweite charakteristische Eigenschaft ist der Bau zu ebener Erde – das niederdeutsche Bauernhaus hat fast nie ein Stockwerk, selbst in der sonst so vielfach abweichenden Marsch nicht; denn Abweichungen, welche ich gefunden, z. B. in den nach Abgrabung des Moores reich gewordenen Moordistricten, sind verschwindende Ausnahmen.

Ein Drittes, ganz Eigenartiges ist das offene Herdfeuer, der Mangel eines Rauchfanges, worauf ich bei der Einzelschilderung zurückzukommen gedenke.

Die vierte Eigenschaft endlich ist die isolirte Lage des Hofes. Es giebt in Niederdeutschland natürlich ebenso gut Dörfer und Flecken wie anderwärts, aber der Procentsatz der Einzelhöfe ist ein viel bedeutenderer als im oberen Deutschland. Und im Dorfe selbst macht sich unverkennbar das Streben des einzelnen Hauses und Hofes bemerkbar, sich den Nachbar etwas vom Halse zu halten. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die Besitzer schlechte Nachbarschaft hielten – im Gegentheil, das nachbarliche Verhältniß ist durch ganz Niederdeutschland ein sehr gutes.

Deuten schon diese allgemeinen Eigenschaften auf einen ganz eigenartigen Character hin, so zeigt sich dies mal um so interessanter in den Einzelheiten des Hofes.

Während im übrigen Deutschland die Höfe meist aus einem einen Hofraum umgebenden Häusercomplex bestehen, concentrirt sich, wie ich eben schon andeutete, hier Alles auf das eine Gebäude – ein Umstand, durch welchen das Aussehen des Hofes an sich schon ein durchaus verschiedenes wird. Hierzu tritt aber nun, das Bild in einer ganz besonderen Weise vervollständigend, der Kamp. Unter diesem Ausdrucke versteht man einen Baumbestand von bald größerem, bald kleinerem Durchmesser, in dessen Mitte der Hof gleichsam geborgen liegt, und der Kamp erfüllt in der That die Aufgabe, als Windschutz gegen den Nordwest zu dienen. Daher sind denn auch Kamp und Hof unzertrennlich, und der mit der Gegend Vertraute erkennt an der isolirt und dicht gedrängt stehenden Baumgruppe schon aus der Ferne das Vorhandensein eines Hofes.

Diese Verbindung nun des altertümlichen Bauwerks mit einer prächtigen Baumvegetation bietet etwas, was unsere Maler allenthalben in Deutschland, nur nicht in Niederdeutschland zu suchen pflegen – die ländliche Idylle nämlich in einer Vollkommenheit, daß ich dreist zu behaupten wage: das gesammte übrige Deutschland vermag sich in Bezug auf diese Bilder in keiner Weise mit dem niederdeutschen Gebiete zu messen. Es geht durch diese ländlichen Höfe-Bilder ein so packender kraftvoller Zug; sie zeigen eine solche Energie der Form und Farbe, des Lichtes und Schattens, ja in ihrer isolirten Lage oft ein solch künstlerisch in sich abgeschlossenes, fertiges und charaktervolles Bild, wie ich es nirgends anderswo in diesem Umfange und namentlich auch in dieser Reichhaltigkeit gefunden habe; sie wirkt oft geradezu überraschend, wenn man in kurzem Zeitraum an einer größeren Reihe solcher Höfe vorübereilt. Hier liegt der eine in einer wahren Schattennacht, von stolzen Buchen überwölbt, aus deren Mitte eine alte vom Blitz gefurchte kahlästige Eiche wie ein trotziger Wächter des Hausfriedens emporragt; dort ist das altehrwürdige Gebäude von lauter knorrigen Eichen ehrwürdigen Alters umstanden, wieder an einem anderen Hofe legen dunkle Tannen, von lichten Birken durchsetzt, ihre breiten Aeste wie schützend auf das dunkelgrün oder goldbraun schimmernde Rieddach – ringsum aber läuft bei allen in hellleuchtendem Grün die Hecke, zwischen deren Laub hier und dort die krummgebogenen Buchen- oder Birkenstämme, aus denen sie besteht, sich gleich ertappten Bösewichtern ducken, während wilde Rosen, Jelängerjelieber und Brombeerranken sich durch ihre Aeste und Blätter schlingen.

Die Hecke nun vervollständigt das Bild des Hofes als eines in sich abgeschlossener Ganzen. Den Eingang durch die Hecke schließt der Baum, „Rön- oder Rünbaum“, auch blos „Rön“ genannt, der aus zwei durch Querhölzer verbundenen Balken besteht, derer oberster schwer in einer Gabel ruht und durch dessen Aus- und Einheben der Eingang geöffnet oder geschlossen wird.

Diese Pforte und den Kamp durchschreitend, stehen wir bald vor dem Hause, zu dessen Seite, meist in rechtwinkeliger Stellung zu demselben, sich ein oder zwei aus Flechtwerk mit Lehmbewurf hergestellte kleinere schuppenartige Gebäude befinden, welche teils als Aufbewahrungsort von Frucht, theils als eine Art Rumpelkammer Verwerthung finden. An die oft abgebröckelte Seitenwand eines dieser Gebäude stößt der Schweinestall, der sich natürlich nicht mit im Hause befindet.

Das Haus selbst stellt ein langes Parallelogramm dar, das in zwei respective drei ungleiche Theile zerfällt: in die den bei Weitem größten Raum beanspruchende Diele und in die Howand einerseits, in die Stube oder Dönse andererseits, und zwar derart, daß der als Howand bezeichnete Theil zwischen der Diele und Stube liegt. Namentlich macht sich hier ein Unterschied zwischen dem nieder- und oberdeutscher Begriffe in Bezug darauf geltend, was beim Hause „vorn“ und „hinten“ genannt wird. Während für das übrige Deutschland das „Vorn“ sich mit der Fensterfront der als Wohnzimmer benutzten Räume deckt, ist dies hier gerade umgekehrt, indem der Theil, welcher die Wohnzimmer umschließt, das „Hinten“ repräsentirt, während die Diele und ihre Thoröffnung nach vorn liegt.

Beim Eintritte in das Haus empfängt uns ein hochgewölbtes breites Thor, über welchem in Holz eingeschnitten ein frommer Spruch steht – ab und zu orginell, meist aber ein gewöhnlicher

Bibelspruch – unter diesem in der einen Ecke der Name des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_626.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)