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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.

4. Das kaiserlich deutsche Gesundheitsamt zu Berlin.

„Heutigen Tages können wir weder unsere Fehler noch die Mittel gegen dieselben ertragen.“ An dieses Wort des Livius wird man unwillkürlich erinnert durch die Hergänge, welche der Errichtung unseres deutschen Gesundheitsamtes vorausgingen, und durch die so vielfachen Angriffe, welche diese Reichsschöpfung in der kurzen Zeit ihres Bestehens schon zu erdulden gehabt hat. In der Idee war man für diese neue Centralbehörde begeistert; praktisch in’s Leben getreten stieß sie auf Schwierigkeiten, die man eben erst durch die Praxis voll würdigen lernte.

Bereits im Februar 1870 war dem damaligen Norddeutschen Bundesrathe eine Petition von einigen Tausend deutscher Bürgermeister, Aerzte, Techniker etc. vorgelegt worden, welche dringend eine centrale Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege innerhalb des Norddeutschen Bundes erbat; mit ihr vereinigten sich mehrere gleichsinnige Petitionen einzelner Städte und Vereine. Man hatte auf ein freundliches Entgegenkommen gerechnet und war nicht wenig erstaunt, ja teilweise entrüstet darüber, daß die wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen, die oberste begutachtende Fachbehörde Preußens – sich ablehnend aussprach. Die Petenten redeten vom Schutz der Fabrikarbeiter und der Schulkinder, von Baupolizei-Ordnungen, von der Entwässerung und Reinhaltung der oberen Bodenschichten in den Städten, von der Beschaffung guten Wassers, von der Einrichtung des hygienischen Unterrichtes an den Universitäten und noch von zahlreiche Einzeldingen hinsichtlich deren die Gesundheitsbehörden tief in die Thätigkeit der Kreise und Gemeinden eingreifen sollten.

„Wir müssen es für unmöglich halten,“ heißt es sehr bezeichnend in dem Gutachten jener wissenschaftlichen Behörde, „diese Aufgabe so sehr zu schematisiren. Nicht einmal wissenschaftlich sind die einschlagenden Fragen so sehr geklärt, um der fortschreitenden Erfahrung der Einzelstaaten Schranken zu setzen: eine glückliche Erfahrung, die aus einer Gemeinde hervorgeht, wirkt hier mehr, als eine Schaar von Verordnungen, zu deren Durchführung es an geeigneten Localorganen gebricht.“

Für einzelne Aufgaben aber, lesen wir in dem Gutachten weiter, seien viel zweckmäßiger besondere Sachverständigen-Commissionen einzuberufen, z. B. wenn es sich um die Abwehr ansteckender Krankheiten handle. Selbst hinsichtlich des einzigen als wünschenswert anerkannten Punktes, „eine wissenschaftliche Körperschaft für die Bearbeitung der medicinischen Statistik und der allgemeinen Gesundheitsberichte zu haben“, wird noch die Befürchtung laut, daß es für eine jeder executiven Gewalt entbehrende Behörde kaum möglich sein dürfte, in Bezug auf Erkrankungs- und Sterbeziffern eine zuverlässige Grundlage zu schaffen.

Der starke Wille des Reichskanzlers selbst aber war es, welcher – allerdings erst im October 1875 – eine Denkschrift zur Begründung einer Forderung von etwas über 20,000 Mark als Gehalt für vorläufig drei Mitglieder des Gesundheitsamtes – einen Arzt, einen Statistiker und einen Verwaltungsbeamten – einbrachte und begründete. Auch dieses Document spricht über die Schritte, die man zunächst im Auge hatte, sehr vorsichtig.

So gewann das Gesundheitsamt eine vorläufige concrete Gestalt, und durch die Bewilligungen in der nächsten Sitzungsperiode auch die Mittel, sich in dem bis dahin nur mietweise innegehabten Hause ein eigenes Heim zu begründen. Es ist ein unscheinbares, nur sechs Fenster breites Haus, Nr. 57 in der Louisenstraße, und der Berliner Volkswitz halte es wohlfeil, über einen Centralsitz der „Volksgesundheit“ zu spötteln der unmittelbar an den Ufern der übelberüchtigten Panke liegt. Selbstverständlich hatten bei der Wahl des schmucklosen, auch jetzt noch durch keine Inschrift gezierten Gebäudes wichtigere, sogleich zu erwähnende Rücksichten den Ausschlag gegeben.

Treten wir ein! – Der saubere Oelfarbenanstrich des Fußbodens und der Wände allein zeichnet den Zugang des Amtes vor den überwiegend etwas unsauber gehaltenen Hausfluren benachbarter Häuser des Quartier latin aus; den kleinen gepflasterten Hof, den casernenartigen Seitenflügel, das niedrige Hintergebäude hat es mit ihnen gemein. Im Parterre finden wir einige Bureauzimmer und, nach hinten sich erstreckend, die Räume des chemischen Laboratoriums, im ersten Stock Conferenzsaal, Bibliothek, Arbeitszimmer der Räthe, im zweiten die Directorwohnung. Die Räume des Seiten- und Hinterbaues werden im ersten Stock vom mikroskopischen im Parterre – neben dem chemischen – vom physikalischen Laboratorium ausgefüllt. Im Souterrain finden sich neben Heiz-, Gas-, Wasser- und Ventilationsanlagen Aufbewahrungsorte für die Chemikalien und einige Kellerräume zur Unterbringung der Affen, Hühner, Kaninchen etc., welche für die mit Krankheitsstoffen anzustellenden Thierversuche bestimmt sind.

Die Einrichtung aller Aufenthaltsräume ist einfach, zweckentsprechend und nüchtern, die Ausstattung der Laboratorien zeitgemäß und ausreichend, ja was die Vorrichtungen zum Mikroskopiren und zur photographischen Abbildung der zu erforschenden Krankheitsstoffe anlangt, sogar reichlich und in ihrer Art einzig. Ein freundschaftliches Verhältniß zur unmittelbar angrenzenden Thierarzneischule, deren Director gleichzeitig Rath im Gesundheitsamte ist, ermöglicht die Ausführung umfangreicherer Experimente über Thierkrankheiten, animale Impfung etc.

Das vornehme, fast mysteriöse Schweigen, welches über dem ganzen Bau und in allen Einzelräumen herrscht, ist einige Male im Lauf der Jahre wohl schon von lebhaftem Zu- und Abgang Fremder unterbrochen worden. Als die in fast allen größeren Städte Deutschlands ausfindig gemachten Hülfskräfte des Amtes sich zu Commissionsberathungen vereinigten, um sich über das neue „Deutsche Arzneibuch“, den „Schutz gegen Petroleumverfälschung und -gefahr“, das „Nahrungsmittelgesetz“ zu verständigen, pulsirte ein reges Leben im Amte, und an Gelegenheiten, solche Congresse auch künftig zu veranstalten, wird es bei der Zahl der noch zu erledigenden und sich immer neu gestaltenden Aufgaben nicht fehlen.

Inzwischen hat sich auch die Zahl der ununterbrochen an Ort und Stelle tätigen Kräfte wesentlich vermehrt, sodaß dem Director und vier Räthen (für chemische, physikalisch-hygienische, epidemiologische und veterinärärztliche Aufgaben) bereits sechs Hülfsarbeiter zur Seite stehen.

Es ist indeß – auch mit solcher Unterstützung – wahrlich eine Herculesarbeit, den von allen Seiten her sich aufdrängenden Anforderungen der Ungeduld und dem theilweise offen ausgesprochenen Uebelwollen Stand zu halten. Und wie es in der Natur der Sache lag, konnte auch der neuen Reichsschöpfung der Hauptfeind alles neuen Werdens nicht fern bleiben – der Dämon der übertriebenen Erwartungen.

Schon der gemeine Mann bildet sich von einem staatlichen Gesundheitsamte die Auffassung, daß in Folge seiner Wirksamkeit die Krankheiten bald aufhören und viele andere Uebel wesentlich gemindert werden müßten. Aber auch andere, wenn nicht wirklich gebildete, so doch sehr hochstehende Persönlichkeiten haben in diesem Falle erwartet, kraft einer solchen Einrichtung werde man nun nicht blos stets gutes Bier, echten Tabak, sondern auch reelle Kleiderstoffe u. dergl. m. habe. – Und wie übertrieben waren die Vorstellungen, welche man fast allgemein von einer Uebertragung englischer Gepflogenheiten auf unseren deutschen Boden hegte; wie leicht und schnell wurde auch hier das Selbstverständliche vergessen, daß Eines sich nicht für Alle schickt!

Durch eine höchst beachtenswerthe Denkschrift – vom Februar 1878 – suchte das Amt diesen Uebertreibungen entgegen zu arbeiten. Es begrenzte auf einundzwanzig Folioseiten seine Aufgabe auf einige dreißig, hob unter diesen einige als nächstliegende hervor und ordnete die übrigen nach ihrer Dringlichkeit und den bereits möglich gewesenen Vorarbeiten. So konnte man damals bereits mittheilen, daß eine systematische Klimabeobachtung im Gange war, daß man das Trinkwasser einer großen Anzahl deutscher Städte und Plätze untersucht habe, um die Ergebnisse beim etwaigen Ausbruch einer Epidemie zu verwerthen, daß die Gesetzvorlagen „über die allgemeine obligatorische Impfung“, das „Reichsgesetz, betreffend die Abwehr und Unterdrückung der Viehseuche“, ein Gutachten über die Einführung der Fleischschau und den Verkauf des Fleisches, sowie das besonders dringlich dargestellte „Gesetz gegen die Nahrungsmittelverfälschungen“ als vollkommen fertig gestellt gelten konnten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_642.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)