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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 41.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Das Krüppelchen.
Erzählung von Karl Theodor Schultz.


(Fortsetzung.)


3.

Wie die Trakehner jagten und der leichte Schlitten flog! Schneegeflock darüber und ringsum und hinterher; dann und wann auch ein lustiger Peitschenknall von der Pritsche nieder, wenn Ludwig dachte, die Braunen könnten scheuen oder gar ausbiegen wollen. Förster selbst fuhr: er starrte nur vor sich hin und hielt die Zügel mechanisch fest.

Mit welchem Träumen im Herzen er hier noch vor einer Stunde gefahren war, nur auf Weichstes, Bestes sinnend für Else und Rudi, für sich wie – die Mutter! Wie würde es die kränken, die immer so für Else gesprochen hatte! Wie schön diese aber gewesen! Bestrickend schön! Und als sie sich verrathen! Wenn ihr ganzes Widerstreben nichts wäre, als das eifersüchtige Gefühl, Niemand neben sich dulden zu können, auch das Kind nicht?

Er lachte auf und sah um sich. Da stand die vom Blitz getroffene Pappel. Mit dieser hatte sich Rudi, als sie kürzlich hier spazieren gefahren, auf’s kindlich Lebhafteste beschäftigt: das fiel dem Vater natürlich ein, und seine Gedanken erhielten damit eine andere Richtung. Nicht mehr dem, was gewesen – allein der Zukunft wandten sie sich zu. Und da löste sich nach und nach aus einem Gewoge von Gefühlen, ja Qualen, etwas unerbittlich los, vor dem jedes selbstsüchtige Hoffen schwinden mußte – die Nothwendigkeit, sein Glück der Pflicht zum Opfer zu bringen. Der Vater gehörte zuerst dem Kinde, gerade diesem Kinde, das so ganz auf seine Liebe angewiesen, dessen Leben sich überhaupt nur im Bereiche des Vaterhauses leidlich gestalten ließ. Welche Herbigkeit, welche Härte des Charakters also, etwas an sich schon so Unglückseliges von da, wo sich sein kümmerliches Dasein noch am leichteste trug, vertrieben wissen zu wollen! Und weshalb vertrieben? Weil der Anblick von Leide die gute Laune trüben konnte! – Zwar meinte sie, dabei nur an ihn zu denken. Wie lebensgern hätte er aber auf alle Laune und Geist verzichtet, hätte sie nur nach der einfachen Stellung in seinem Hause getrachtet, die sie so verachtungsvoll einem Dienstboten zugewiesen! Konnte er ihr wirklich etwas sein, von Herzen sein? Ihr offenbares Kämpfen mit sich, selbst ihr jähes Erröthen, als ihre Eifersucht hervorgebrochen – schienen sie nicht auch nur Beweise dafür zu sein? War sie nicht eine durch und durch egoistische Natur? Es war also zu seinem Glücke, daß sie sich in ihrer Herzensarmuth schon jetzt gezeigt, wo er noch zurücktreten konnte. Und das hätte er gleich thun müssen. Warum noch der Aufschub? Würde sie bei ihrem Fordern bleiben, dann gäbe es keine Lösung. Was sollte sie aber davon abbringen? Daß sie nun vielleicht ahnte, welch eine Entsagung sie ihm auferlegen wolle? Dieses kalte, eigenwillige Naturell verhärtete sich wohl eher und erstickte noch das Wenige von Interesse, das er ihr eingeflößt hatte.

Er hob den Kopf, als ob er Luft entbehre. Ein paar tiefe Athemzüge brachten ihn dann auch völlig zu sich, und als er bald darauf die erleuchteten Fenster seines Hauses sah, überkam ihn sogar das warme, sichere Gefühl, wie Großes ihm noch geblieben sei. Die Mutter – seine Kinder! Und Else hatte recht gesehen: ob er Hans auch väterlich liebte, dem armen Rudi gehörte ein Stück seines Herzens.

Als der Schlitten hielt, warf Förster dem Kutscher die Zügel zu, besichtigte aber nicht die Pferde, wie gewöhnlich nach einer Ausfahrt, sondern eilte gleich die Freitreppe empor. An der geöffneten Hausthür stand, wie immer, wenn der Vater zurückkam, Rudi und stapfte ihm nun in seiner unbeholfenen Weise entgegen. Mit einem Schmerzenslaut nahm Förster das Kind in die Arme und drückte es so heftig an sich, daß es seine Krücke fallen ließ, die polternd auf den Fliesen ausschlug. Hans, der eben kam, sah den Vater erschrocken an; dieser achtete jedoch auf nichts und preßte Rudi nur immer wieder an sich. Mit ganz großen Augen, die sich nach und nach mit Thränen füllten – ob vor Schmerz über die stürmische Zärtlichkeit, oder schon in dem Ahnen, daß seinem „Vaterchen“ etwas fehlen müsse, – sah das Kind unverwandt auf den erregten Heimgekehrten.

Im Hausflur trat ihnen Frau Förster entgegen und suchte gespannt die Blicke ihres Sohnes; als dieser nur flüchtig winkte und mit Rudi nach seinem Zimmer, nicht dem Wohnzimmer ging, wußte sie, daß etwas Anderes gekommen wäre, als sie gedacht hatten. Nur nicht abgewiesen! Ihr Bernhard abgewiesen! Es war ja undenkbar: was konnte aber sonst dazwischen getreten sein?

Doch kein Grübeln half. So öffnete sie nach einer Weile die Thür zu ihres Sohnes Zimmer und fragte hinein:

„Bist Du noch nicht umgezogen? Ich ängstige mich.“

„Komme nur!“ antwortete dieser.

Während sie hereintrat, ließ er Rudi mit einem letzten Kuß von den Knieen nieder und brachte ihn bis auf den Flur, wo er von Frau Hannisch in Empfang genommen wurde.

Die Mutter hatte sich wie erschöpft auf dem Sopha niedergelassen; Förster setzte sich zu ihr und sagte, indem er ihre Hände in die seinigen nahm:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_673.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)