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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Der beinahe furchtsame Zug, von dem ihr Lächeln verdrängt worden, wich sogleich; sie hob den Arm und zeigte ihr kostbares Armband:

„Mit diesen! Urgroßpapas Türkisenschmuck stimmte so gut zu meinen Kornblumen, und weil er ein Geburtstagsgeschenk ist, durfte ich ihn heute tragen.“

„Ihr Urgroßpapa?“ fragte Siegmund erstaunt.

„Mein Urgroßpapa. Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn ich Ihnen von dem noch nichts erzählt habe; denn ich kenne ihn kaum. Er schickt mir immer schöne Sachen; dann muß ich Briefe schreiben, auf die er nie antwortet. Er ist schon ganz, ganz alt und mag sich nicht lieb haben lassen; sonst müßte er doch Verlangen nach meiner Mama haben, die seine einzige Enkelin ist. Jeder Besuch genirt ihn; deshalb waren wir nicht mehr in Riedegg, seit ich ganz klein gewesen bin.“

„In Riedegg?“ wiederholte Siegmund.

„Nun ja, das Stammschloß von Mamas Familie.“

„Die Frau Gräfin hieß – wie ich?“

„Das wissen Sie nicht?“ fragte Margarita erstaunt. „Aber davon war ja schon die Rede, noch ehe Sie hierher kamen. Es ist blos eine Namensvetterschaft, sagt Mama; wir sind gar nicht mit einander verwandt. Unsere Riedeggs stammen von drüben, jenseits des Brenner; Graf Riedegg, mein Urgroßpapa, ist der Letzte seines Geschlechtes.“

„Hältst Du hier heraldische Vorträge, statt Dich um die Fräuleins zu bekümmern, welche Deine Gäste sind?“ fragte Gräfin Seeon, die herangetreten war, ohne von den beiden in ihr Gespräch Vertieften bemerkt worden zu sein. „Lieutenant Riedegg wird Dich Deiner Pflicht als Wirthin nicht länger entziehen wollen.“

Sie streifte Siegmund mit eisigem Blick, während Margarita erschrocken hinwegschlüpfte. Zum ersten Male war er diesem Ausdruck beleidigenden Hochmuths begegnet, welcher der Gräfin so vielfach zum Vorwurf gemacht wurde, gegen den er sie so oft vertheidigt hatte. Von Gedanken der verschiedensten Art bestürmt, war er in diesem Moment weder willig noch fähig, auf den indirecten Vorwurf, der ihm gemacht worden, etwas zu erwidern; auch blieb ihm dazu keine Zeit; denn die Generalin trat in den Saal zurück, ehe er sich noch zu einer schweigenden Verbeugung bewegt hatte. So blieb er neben dem Flügel stehen, während ein herbes Empfinden erkältend auf seine eben noch so sprühende Stimmung fiel.

Es mochte nicht ganz passend gewesen sein, dachte er bei sich, daß er mit der Tochter des Hauses hier so lange gesprochen – gerade die Gunst näheren Verkehrs, die ihm zu Theil geworden, hätte sein Tactgefühl schärfen und ihm sagen müssen, daß die Art, wie Margarita ihn aufgesucht, wie er sich mit ihr in einem abgesonderten Raume in längeres Gespräch vertieft hatte, den Fremderen unter den Anwesenden auffallen und der Gräfin unlieb sein konnte.

War diese Unüberlegtheit aber hinreichend, um ihn, der gutes Recht hatte, sich dem Hause als näher stehend zu betrachten, mit Blick und Worten abzustrafen? Oder hatte die Gräfin ihn und ihre Tochter beobachtet und vielleicht am Inhalte ihres Gespräches Anstoß genommen? Er besann sich auf die letzten zwischen Margarita und ihm gewechselten Sätze, welche die Gräfin mit angehört haben konnte. Während er darin nichts fand, was ihm plötzliche Ungnade zuziehen durfte, frappirte ihn Das, was er eben vernommen hatte, von Neuem. Diese Namensgleichheit war ihm überhaupt merkwürdig, doch fiel ihm weit mehr auf, daß derselben in monatelangem Verkehre nie gedacht worden, sei es auch nur als Motiv eines Scherzes. Dies schien ihm mehr zu bedeuten als bloßen Zufall, da mußte eine Absicht zu Grunde liegen. Gar nicht verwandt – hatte Margarita gesagt – natürlich nicht! Er wußte sich von bürgerlicher Herkunft.

Das Hinzutreten des Clavierspielers störte ihn aus der unerquicklichen Träumerei auf; ein neuer Tanz begann. Siegmund war engagirt; er mußte seine Tänzerin holen, sich zusammennehmen. Bald darauf ging die Gesellschaft aus einander, ohne daß er Gelegenheit suchte und fand, sich den Damen des Hauses anders zu nähern, als durch eine Abschiedsverbeugung. Graf Seeon, der als artiger Hauswirth jeden Einzelnen an der Thür mit liebenswürdigem Worte entließ bot ihm heute freundlich die Hand, wie immer.

Den getroffenen Arrangements und der ziemlich frühen Stunde entsprechend, zu der sich die Gesellschaft zusammen gefunden, war es kaum Mitternacht, als dieselbe aus einander ging. Die jüngeren Männer fanden es zu früh, um sich nach Hause zu begeben; und ein Vorschlag, noch ein Stündchen im Casino zu verplaudern, traf animirteste Zustimmung. Siegmund, der einsilbig neben den Anderen herging, entschuldigte sich mit Kopfschmerz und kehrte in seine Wohnung zurück. Er wußte selbst nicht, wie ihm war; eine Schwermut, aber zugleich etwas wie ein Freuen war über ihn gekommen; beide Empfindungen verschmolzen sich und schufen ihm die wunderlichste Stimmung. Zunächst wußte er nur, daß er allein sein wollte.

Er fand seine Zimmer erhellt; Jana, die allen Eigentümlichkeiten ihres Mannes Rechnung trug, hatte auch dessen alte Liebhaberei adoptirt, bei Nachhausekommen Licht vorzufinden. Ob der junge Hausgenosse spät oder früh sein Zimmer betrat, stets brannte dort eine Lampe. Diese Aufmerksamkeit, welche ihm sonst ziemlich überflüssig vorkam, that ihm heute wohl. Er machte es sich bequem, ging dann in seinem traulichen, geräumigen Zimmer umher, streifte mit den Augen an all den Bildern und kleinen Besitztümern vorbei, die jedem Raume etwas so Heimathliches aufprägen, und wurde ruhiger. Als er sich in den Sessel vor seinem Arbeitstische warf, fiel sein Blick auf einige lose Notenblätter – das Concept der Lieder, welche er Margarita gewidmet und gestern mit der Copie verglichen halte.

Er saß eine Weile, ohne sich zu regen, die Arme gekreuzt, den Kopf zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen. Was in ihm vorging, war so neu und so süß. Ein Mädchenbild glitt an ihm vorüber; er wußte auf einmal, daß er liebte. Ob er wieder geliebt werde – danach fragte er sich nicht. Sie war ein Kind. Da sah er aber das furchtsame Lächeln wieder, den scheuen raschen Blick, wie in dem Momente, als er ihr vom Bewahren der Blume gesprochen, und zugleich stand die Mutter neben ihr mit der Rüge in Wort und Blick.

Das brach den Zauber, und die Gedanken fingen wieder an weiter zu spinnen, was vorher abgerissen worden; sie spannen verworrene Gewebe um den Mittelpunkt eines Namens. Viele Namen giebt es von gleichem Klang, deren Geschlechter nichts mit einander gemein haben, der seine aber war ein seltener Name mit adeligem Klang. Alles Einzelne, was ihm aufgefallen, ohne daß er es zu deuten gewußt, reihte sich an einander, alles Seltsame, Fragwürdige, das ihm während der letzten Monate zu denken gegeben. Die wiederholten Fragen der Gräfin über seine Mutter, eine Anzahl von Kleinigkeiten, die ihn selbst betrafen und über die er sich stets gewundert hatte, daß sie beachtet wurden, der Vorzug sogar, den Seeons ihm seither gegönnt – Alles weckte in ihm die Ueberzeugung eines Zusammenhanges dieser gleichen Namen. Wie wenig wußte er noch heute von seiner eigenen Abstammung, wie wenig von der Person seines Vaters! Nie war von einem Verwandten desselben die Rede gewesen – er konnte doch nicht vereinzelt in der Welt gestanden haben. Weil er sich der Mutter Unlust, seine Fragen über den schon Verstorbenen zu beantworten, als Trauer ausgelegt, hatte er davon abgelassen. Jetzt reute ihn das. Zu wem gehörte er? Fremde hatten eintreten müssen, da es die Leitung seiner Erziehung galt, da es galt Bürgschaft für seine Identität zu leisten, als bei seinem Eintritt in das Regiment kein Nachweis über seine Geburt vorgelegt werden konnte. Zum ersten Male durchzuckte ihn ein Gedanke, eine Angst, die ihn erschauern ließ.

Es war ihm, als sollte er ersticken; er sprang aus und bewegte die Arme, wie man im Schlafe thut, wenn sich der Alp um die Kehle legt. Dann ergriff er plötzlich die Lampe und trat vor sein Bett, über dem seiner Mutter Bild hing. Sie hatte es ihm geschenkt, als Beide das letzte Mal beisammen gewesen. Das schöne stolze Gesicht schien zu leben; die unerforschlichen Augen blickten ihn ruhig an. Langsam kehrte das Blut in seine Wangen zurück, und als er hinweg trat, war sein Schritt fest; die Hand, welche die Lampe niederstellte und sein Schreibzeug heranschob, zitterte aber noch und verriet ihr Beben in den Zeilen, die er nun auf ein Briefblatt warf.

„S., 20. März 1876.
Meine theure Mutter!

Heute komme ich zu Dir, um Fragen an Dich zu richten, an denen meine Ruhe hängt. Ich schrieb Dir von meinen Beziehungen zur Familie des Grafen Seeon; Du erwidertest nichts hierauf. War das Zufall oder Absicht? Weißt Du, daß Gräfin Ottilie Seeon eine geborene Gräfin Riedegg ist? Sind unsere Familien verwandt?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_691.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)