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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Sie vermochte es nicht wie sonst, sich dieses Anblicks zu freuen – immer mußte sie noch an die andere Mutter denken, an die todte Mutter. Sie hatte sie nicht gekannt, bei Doris aber Bilder von ihr gesehen; solche krankhaft zarte Erscheinung – Rudi das ganze Ebenbild! Und wie schwer mochte die Trennung von den Kindern gewesen sein! Was erzählte Doris nicht Alles! – Nicht weniger hatte auch Bernhard gelitten; dennoch waren kaum drei Jahre vergangen daß er eine Andere in sein Haus geführt, und diese Andere war sie, sie selbst. Stürbe nun auch sie – was dann? „Er bedarf einer Frau,“ sagte sie sich, „so führte er wohl –? Wenn die Neue aber – des Vaters Sache ist es nicht, für ein Kind zu sorgen – würde die Andere mein Kind lieben, wie ich es geliebt?“

Zu Worten war ihr Denken geworden; sie beugte sich mit ungestümer Bewegung über die Wiege, doch plötzlich zurückschreckend – rang sich ein Name von ihren Lippen; eine kleine bleiche Gestalt stand gleichsam faßbar da und sah mit den großen Augen anklagend zu ihr auf. Hatte denn sie Erbarmen gehabt – sie selbst? Hatte sie nicht das Kind aus dem Vaterhause gestoßen? Warum sollte Die, welche vielleicht nach ihr kam, nicht auch mit ihrem Kinde ebenso thun? Das – das hatten die Gedanken, die Todesgedanken, bedeutet.

„Rächen kann Gott an meinem Kinde, was ich an dem der Todten gesündigt, und das sollte ich wissen, ehe ich gehe, damit ich nicht in Verzweiflung gehe.“

Erschöpft lehnte sich Else zurück. Wirr, allzu wirr wurden ihre Gedanken aber aus dem Wirrsal rang es sich los, wie siegende Klarheit.

„Eines sühnt,“ sagte sie, „Eines: die Reue!“

Und wie leicht fiel ihr jetzt die Reue! Ist sie denn noch dieselbe, die sie früher gewesen? Erst so kurze Zeit – und so ganz anders ihr Empfinden? Mutterglück – wie läuterst Du die Herzen! – –

Als Förster heimkehrte, schlief Alles schon; selbst Else, welche sonst immer hören mußte, wie es ihm ergangen. So winkte er denn nur in stillem Segnen der geschlossenen Thür ihres Schlafgemachs einen Gruß zu.


8.

Bereits früh am Nachmittage war Förster von Hause aufgebrochen, da er noch einen befreundeten Gutsbesitzer zu dem Hemmingen’schen Feste abzuholen hatte. Umsonst hatte er Else zugeredet, ihn zu begleiten: sie lehnte freundlich dankend ab. Er sollte, meinte sie dagegen, bleiben, so lange es ihm gefiele. Würde es ihr zu spät, dann hörte sie morgen einen um so genaueren Bericht. Damit hatte sie von ihm Abschied genommen.

Kaum war er jedoch eine halbe Stunde fort, so fuhr der Landauer vor; Else schärfte dem Wirthschaftsfräulein noch zum zweiten und dritten Male Warnungen und allerlei Aufträge ein, die sich meistens auf Role bezogen; dann fuhr sie gleichfalls, aber in der Richtung nach Königsberg, ab – nach dem ihr sonst so verhaßten Königsberg.

Der Weg wurde ihr diesmal ein wenig lang: an den Rappen lag das aber nicht, deren Leistung jeden Sportsmann befriedigt hätte.

Ehe der Wagen noch vor dem Hause in der Münzstraße hielt, hatte ihn Rudi aus dem Seitenfenster entdeckt und jubelnd Lärm geschlagen. So sah ihn Else denn auch, als sie die Treppe zum zweiten Stock betrat, neben Frau Förster am Treppenabsatz stehen. Mit Verwunderung, ja Schrecken hatte diese die Emporsteigende erkannt, doch Else rief ihr schon von unten zu, daß Alle, Alle wohl wären und sie nur herüber gekommen, sich einmal nach ihrem Ergehen zu erkundigen.

Als die beiden Damen später allein im Salon saßen, mußte wohl auch noch Anderes, weniger Alltägliches zur Sprache gekommen sein; denn Beide wurden mit der Zeit sehr erregt, bis Frau Förster auf Else’s Ausruf: „Ich will endlich Bernhard glücklich, ganz glücklich sehen“ dieselbe sogar in die Arme schloß.

Hatte Frau Förster so an Else Freude erlebt, so gewann sich Rudi dafür ein großes Stück von Else’s Herz. Ihr war gleich bei Rudi’s erstem schüchternem Gruße auf’s angenehmste die Veränderung aufgefallen, welche mit ihm vorgegangen. Ruhiger, sinniger besonders, blieb jede seiner Aeußerungen und von dem, was ihr allein noch Sorge gemacht und ihr Vorhaben sehr erschwert hätte – war nicht der kleinste Zug zu finden: Man mußte über sie nur Gutes zu ihm gesprochen haben; denn er hatte sie gleich „Mutter“ genannt – wie das klang! O, wenn es Role erst sagen würde! –

Auch Frau Förster hatte Alles, was ihr nach dem Gespräche mit Else nöthig erschienen, in der kürzesten Zeit besorgt oder besorgen lassen, und so konnte der Landauer, von ihren wärmsten Wünschen begleitet, schon gegen Acht wieder das Königsthor der alten Königsstadt passiren

Vor Mitternacht war Else zu Hause. Ein Stündchen blieb ihr noch zu Anordnungen und stillen, lieblichen Gedanken; dann kam auch Förster heim. Es wunderte ihn natürlich nicht, sie noch wach zu finden; nur schloß er aus ihren glänzenden Augen, daß er etwas Neues über Role erfahren würde.

Sie setzten sich; Förster berichtete dies und das, ohne wie sonst eine besondere Theilnahme dafür zu finden; nur was ihm persönlich begegnet, fand lauteren Widerhall. Endlich war er mit dem Erzählen zu Ende und fragte nun gleich direct:

„Was hat Role denn wieder angegeben? Ich fange ernstlich an zu fürchten, daß er seinen Vater noch ganz verdrängen wird. Ob er da überhaupt sehr zu drängen hätte?“

Else sah ihn ebenfalls lächelnd an, erwiderte aber trotz der scherzhaften Wendung in ernstem Tone:

„Nach meinem Gedenken – sehr!“

„Hat er denn noch immer nicht ,Vaterchen’ gesagt?“ fragte Förster und zeigte dabei auf die Thür zum Nebenzimmer, wo Role schlief.

„Du verlangst zu viel. Anderswo habe ich heute freilich ,Vaterchen’ sagen hören.“

Da sie Rudi’s Stimme nachgeahmt hatte, wurde Förster aufmerksam, fragte jedoch nur zweifelnd: „Anderswo?“

„Gewiß!“

„So wärst Du ausgefahren?“

Sie hob leicht die Achseln.

„Es schien mir,“ fuhr er sie gespannt ansehend fort, „als sollte das Rudi’s Stimme bedeuten – wie wäre das aber möglich?“

„Vielleicht doch!“

„Wie Du grausam scherzen kannst! Und dennoch: ich bin Dir dankbar.“

„Wofür?“

„Es war zum ersten Mal, daß Du – wenn auch nur im Scherz, an das Kind dachtest.“

„Und wenn das nun eine ganz abscheuliche Unwahrheit wäre?“ rief Else in vollem Eifer. „Ja, Du Erzvertheidiger der Wahrheit! Wenn ich nun seit vorgestern, o bereits, seit ich neulich Nachts mit Dir gesprochen, wo ich nichts fühlen und hören mußte, als wie Du an Rudi hängst – wenn ich von da an immerfort an das Kind gedacht hätte?“

„Else!“

„Bernhard, keine Ruhe hat es mir gelassen. Was ich auch dachte und that, ich fand keine Ruhe. Bis in den Tod hat es mich geängstigt. Als Du vorgestern fort warst, saß ich an der Wiege – und mir war so wohl, so unendlich wohl. Da auf einmal wurde mir – ich weiß noch heute nicht, was es war – als sollte ich von Euch gehen. Und nun kamen Gedanken, Bernhard, als hätte plötzlich Alles Stimmen bekommen, was mir von Anfang an im Herzen gelegen von Anfang an; denn ob Du mir es auch nicht glaubst – ganz, ganz tief innen lag das wohl schon immer: ich empfand das auch. Da schenkte uns Gott – unsern Role. Ach, Keine von uns soll vorher sagen, wie sie ihr Leben sich einrichten will: mit dem ersten Schrei ihres Kindes wird ja doch Alles anders. Auch ich bin keine Ausnahme meines Geschlechts; o mit Stolz, mit wahrem Herzensvergnügen nahm ich auf mich – Du weißt es – was für ihn täglich und stündlich zu thun. Was galt es jetzt, was das Mädchen früher beglückt hatte? Nichts – nichts! Dort in dem kleinen Raum wohnt mir nun Geist und Glück und alle Freude.“

Sie waren aufgestanden; Förster zog sie stürmisch an die Brust, vermochte aber vor Erschütterung kein Wort zu sprechen.

„Von dieser Erkenntniß,“ fuhr sie fort, „konnte der Schritt bis zu Rudi nur klein sein. Sah ich doch, wie schwer Du noch immer an dieser Trennung trugst. Ich sah, daß selbst Deine Mutter, die liebe, gute Mutter, litt – und Alles nur um meinetwillen! So fuhr ich heute nach Königsberg.“

„Du –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_696.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)