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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 44.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.

Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Die Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Vetter Fräulein Anne-Marie schulmeisterte, war in der That empörend. Was war er denn, und wie alt war er denn, daß er sie wie ein unerzogenes Kind behandeln durfte? Sie wollte dergleichen Aeußerungen von seiner Seite zunächst einmal ignoriren.

„Zwar, ich begreife,“ fuhr er nachlässig fort. „Es muß in diesem Pelchow mehr als ländlich zugehen, und Sie kamen jung hierher.“

„Ich wünschte wohl, daß Sie den Onkel schonten,“ stieß Anne-Marie hart hervor. „Er ist freilich voll Grillen und Eigenheiten, aber er ist von Herzen gut und ein alter Mann, und ich dächte, es wäre eine Kränkung für ihn, daß man ihm die freie Verfügung über sein Eigenthum nimmt.“

„Was wollen Sie? Er ist ein bankrotter Verschwender, den man längst hätte unter Curatel stellen sollen. Die Zeit der Originale ist vorüber, und es gilt heutzutage nicht mehr als Entschuldigung, wenn Einer sein Geld und nebenbei dasjenige anderer Leute, statt auf eine gewöhnliche, auf eine verrückte Art durchbringt. Ein Mensch, der nicht mit klarem Kopf und zielbewußtem Willen ein Vermögen verwalten kann, muß eben wie ein Kind behandelt werden. Ein zartfühlendes Mädchenherz mag da sein Privaterbarmen haben, das öffentliche Leben der Gegenwart aber ist hartherzig wie das Recht und die Vernunft. Aber davon versteht ein Mädchen nichts, Cousine Lebzow, und ich liebe unnütze Kraftvergeudung nicht. – Was meinen Sie, könnten wir nicht etwas schneller gehen?“

„Nein,“ erwiderte sie fast heftig; „könnten Sie nicht vielleicht etwas langsamer gehen?“

Und sie wagte es sogar, ihm einen trotzigen Blick zuzuwerfen, senkte indeß die Wimpern und wandte sich ab, als sich die scharfen grauen Augen ihres Begleiters so ruhig und kühl auf die ihrigen hefteten, als handle es sich zwischen ihnen Beiden um die einfachsten sachlichen Erörterungen, bei welchen ein Affect gar nicht in Frage kommen könne.

„Ganz wie Sie befehlen! Sie hätten vielleicht besser gethan, vorhin meinen Arm zu nehmen. – Teufel, da kommen wir in eine schöne Atmosphäre!“

Zwanzig Schritt vor ihnen bog eine Schafheerde von einem Feldweg her in die Landstraße ein. Der vorangehende Schäfer strickte an einem Strumpfe; die Schafe blökten; zwei Hunde kreisten hin und her. Unendlicher Staub wirbelte auf, den die sinkende Sonne durchleuchtete und der sich bis zu dem Paare hinzog.

„Wir hätten am Ende doch den Wagen benutzen sollen, Cousine,“ brachte der neue Administrator von Pelchow heraus, mit einem Hustenanfall kämpfend. „Aber wer ist auf solche Eventualitäten gefaßt! Warten Sie – ich werde den Menschen veranlassen, auf diese Brache hinüber auszuweichen.“

„Bitte, wir können die Sache kürzer machen, Herr von Boddin,“ sagte die junge Dame rasch; „das Ausweichen ist für uns bequemer als für die Heerde.“

Und froh, sich für eine Minute von ihrem Begleiter losmachen zu können, sprang Anne-Marie von Lebzow leichtfüßig über die schmale Grabenrinne und lief drüben auf der glatten Kleebrache hin. Die blauen Hutbänder und der Saum des hellen Kattunkleides flogen hinter ihr. Jetzt merkte er nicht, wie sie zornig aussah und die Lippen auf einander preßte. Am liebsten wäre sie so fort gelaufen bis nach Pelchow hinein. Was hatte sie für eine Verpflichtung, sich die Gesellschaft dieses Mannes gefallen zu lassen, der von der Natur dazu geschaften erschien, sie beständig zu verletzen und zu beleidigen? Anne-Marie dachte an den Onkel, an die Kämpfe, welche dieser abscheuliche Vetter nach dem ruhigen Pelchow tragen würde, und zugleich stand der Entschluß in ihr fest, ihm Opposition zu machen, wo und wie es ihr Herz ihr gebieten würde. Er war klug – so schien es – aber gefühllos und von einer Rücksichtslosigkeit und Selbstgenügsamkeit, daß sie ihm kaltblütig irgend ein Leid hätte zufügen können. Sie dachte das alles und hätte wohl noch mehr dergleichen gedacht, aber sie hatte in ihrem Eifer nicht beachtet, daß die Kleebrache zu Ende ging und daß an dieselbe frisch gepflügter Sturzacker stieß. Und plötzlich schrie sie halblaut auf: ein Fuß versagte ihr den Dienst, und sie sank in die Kniee und stützte sich mit beiden Händen auf die fettglänzenden Ackerschollen.

„Die reine Natur,“ hatte Curt von Boddin gesagt, während er durch den Klemmer den Bewegungen der Davoneilenden gefolgt war. „Sonst nicht übel, aber die Erziehung dieses Familiengliedes ist total vernachlässigt. Das Mädchen läuft wie eine Bauernmagd; ich glaube, sie wäre im Stande, vor meinen Augen auf Bäume zu klettern.“ Dann war er, einen ironischen Blick auf das Bündel voll Pilze werfend, das er zwischen den Fingerspitzen hielt, ihr mit langen Schritten auf die Brache hinüber nachgegangen. Und „da haben wir’s,“ rief er plötzlich, schlug aber sofort ein anderes Tempo an, als er bemerkte, daß sie keine Anstalten machte, sich zu erheben.

„Was ist Ihnen? Haben Sie sich den Fuß verletzt?“ fragte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_725.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2021)