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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


Siegmund fuhr zusammen. Erst jetzt, wo das volle Licht der Lampe aufs ihn fiel, gewahrte Fügen, wie elend und verfallen er aussah. Alle Empfindlichkeit war im Nu verweht.

„Siegmund,“ sagte er in ganz verändertem Ton, „was hat das Alles zu bedeuten? Du sagst uns, daß Du nach Paris zur Mutter reisen wolltest; kaum bist Du einige Tage fort, so erfahre ich, daß Du von hier aus plötzlich Deinen Abschied eingegeben, und erhalte fast zu gleicher Zeit einen Brief Deiner Mutter mit einer Einlage, die ich Dir zugehen lassen sollte, falls ich wisse, wo Du Dich aufhältst. Frei heraus: es hat mich verdrossen, daß ich von Fremden zuerst erfahren mußte, welchen abfallenden Entschluß Du gefaßt hast; ich hätte Dich nicht aufgesucht, führte mich nicht ein zweiter Auftrag Deiner Mutter nach der Moosburg. Ich will mich nicht in Deine Angelegenheiten drängen, aber ich darf Dich daran erinnern, wie ich für Dich gesonnen bin.“

Des jungen Mannes Augen wurzelten am Boden.

„Was schreibt Ihnen meine Mutter?“ fragte er düster.

„Das kannst Du erfahren, nachdem Du ihren an Dich selbst gerichteten Brief gelesen. Hier!“

Er nahm ein verschlossenes Couvert aus seiner Brusttasche und reichte es Siegmund hin, dessen Hand sich so zögernd ausstreckte, daß der Brief zur Erde glitt. Siegmund hob den Brief nun auf, aber legte ihn uneröffnet auf den Tisch. Ohne weitere Bemerkung nahm der Capellmeister ein brennendes Handlämpchen vom Seitentische und ging, die Thür hinter sich offen lassend, in das anstoßende Zimmer. Siegmund, der ihm mechanisch nachblickte, sah dort das Schreibpult seiner Mutter, dessen Schlüssel sie stets bei sich führte, geöffnet und einige Häufchen Briefe und Papiere auf dessen Platte geordnet, womit Fügen sich nun beschäftigte.

Siegmund schaute ihm einige Augenblicke mit stumpfer Verwunderung zu; dann wandte er den Blick wieder auf den vor ihm liegenden Brief. Bei der bloßen Vorstellung, was er enthalten möge: Worte der Rechtfertigung, der Erklärung, erfaßte ihn Grauen und Ekel. Da klang plötzlich, wie von fern her, Alles das an sein inneres Ohr, was Lois so eindringlich von ihm gefordert. Er preßte die Lippen auf einander und öffnete das Couvert. Das herausfallende Blättchen enthielt nur wenige Zeilen:

„Siegmund!

Du verdammst mich, und ich werde Dich niemals wiedersehen. Ich bereue nicht, daß ich Dich mehr geliebt habe, als mein Glück und meine Ehre.

Deine eigene Ehre beruhst auf Dir selbst. Lebe wohl!

          Deine Mutter Genoveva.“

(Fortsetzung folgt.)




Von der Wiener Literaturwoche.
Ein Rückblick.

Es sind Gegenstände von nicht geringer Wichtigkeit, welche alljährlich von dem internationalen literarischen Congresse und dem deutschen Schriftstellertage berathen werden. Das literarische Eigenthum, welches gegen Plünderung und Ausbeutung durch Uebersetzer und Verleger gar lange schutzlos war, soll mit gesetzlichen Bürgschaften umgeben werden, damit dasjenige, was mit dem Kopfe ersonnen und mit der Feder gestaltet wird, ebenso der rechtliche Besitz seines Schöpfers sei und bleibe, wie Hand- und Maschinenarbeit, welche des Patent- und Musterschutzes genießen, wie Geld und Geldeswerth, woran diebische Gelüste sich mir auf die Gefahr hin, mit den Strafgesetzen in Conflict zu gerathen, vergreifen dürfen. Das ganze Jahr hindurch arbeiten Literaten und Schriftsteller rastlos im Dienste der allgemeinen Bildung, im Dienste der Kunst und Wissenschaft, auf dem Schriftstellertage aber, der die deutschen, auf dem internationalen Congresse, der die Schriftsteller aus aller übrigen Herren Ländern vereinigt, wird gemeinsame Umschau gehalten über die Fortschritte der literarischen Eigenthumsfrage, und es stellt sich dabei – leider Gottes! – meistens heraus, daß die Gesetzgebungen noch immer nicht die geistige Production mit der nämlichen Elle messen wie die gewerbliche und industrielle. In Frankreich ist es freilich schon besser geworden; dort darf beispielsweise die Verdi’sche Oper „Ernani“ nicht abgeführt werden, weil der Verfasser des Textbuches es unterlassen, sich vorher mit Victor Hugo aus einander zu setzen, dessen gleichnamiger Roman ihm zu seinem Libretto den Stoff hergab. In Deutschland aber ist das literarische Eigenthum noch immer kein unbestrittener Besitz, obwohl seit jener Zeit, in welcher Berthold Auerbach zum ersten Male wegen der dramatischen Bearbeitung seiner „Frau Professor“ durch Charlotte Birch-Pfeiffer die öffentlichen Gerichte in Anspruch nahm, nun schon mehr als dreißig Jahre verflossen sind. Und in Rußland, in Skandinavien, in Amerika steht es gar wirklich noch so, als wäre Proudhon’s ungeheuerlicher Satz „Eigenthum ist Diebstahl“ die Norm und Regel auf dem Gebiete des literarischen Schaffens.

Recht eigentlich um sich ihrer Haut zu wehren, kommen also die Schriftsteller auf ihren Congressen zusammen. Aber da sie allzumal schlechte Geschäftsleute sind, so fördern sie zumeist nur geringe praktische Resultate zu Tage; sie sind wie die Aerzte, von denen der Talmud sagt, sie verständen Andere zu heilen, aber nicht sich selbst. Das gilt von dem deutschen Schriftstellertage nicht minder als von dem internationalen literarischen Congresse, welch letzterer in Paris, London und Lissabon große Anläufe nahm, bei denen es aber auch im heurigen September in Wien verblieben ist. Anläufe, Anregungen, Impulse – es ist die Sache der Gesetzgeber, sich derselben zu bedienen, sie zu benutzen. Der Schriftsteller kann immer nur klagen und sagen, wie hart und ungerecht es sei, daß Andere mit seinem Eigenthum ungestraft wuchern dürfen; er hat kein Mittel sich dagegen zu wehren, wenn der Staat ihm nicht den mächtigen Arm des Gesetzes leiht.

Aber ob sie auch ohnmächtig sind, diese literarischen Congresse, auf denen viel gesprochen und wenig gewirkt wird – unfruchtbar sind sie nicht. Das war in diesen wunderschönen Septembertagen zu erkennen, während welcher gleichzeitig der deutsche Schriftstellertag und der internationale literarische Congreß in Wien zu Gaste waren, zu Gaste bei dem Wiener Schriftsteller- und Journalistenverein, welcher nicht mit Unrecht den Namen „Concordia“ führt. Da konnte man sehen, was treffliche Wirthe zu thun vermögen zur freundlichen Annäherung und Vereinigung ihrer Gäste, wie der Traum einer internationalen Verbrüderung wenigstens für kurze Frist sich verwirklichen mag. Es ist ja nicht viel mit allgemeinen Schlagworten gesagt, auch wenn sie noch so volltönig sind; die „Weltliteratur“ ist ein großer, schöner Begriff, der vermuthlich niemals auf dem Gebiete des theoretischen Denkens in die reale Welt hinübertreten wird; der „Ritter vom Geiste“ ist allemal ein Priester, aber jeder dieser Priester hat seinen eigenen Gott. Doch immerhin ist es ein hoher Gewinn, wenn diejenigen welche berufen sind, in der Seele ihres Volkes zu lesen, von Angesicht zu Angesicht einander begegnen und eine Weile in trautem Vereine verkehren, wenn persönliche und nationale Vorurtheile sich zum mindesten bei Einzelnen abstreifen, wenn gemeinsame Ziele gemeinsam in’s Auge gefaßt mld besprochen werden.

Und die genußfrohe Kaiserstadt an der Donau war der rechte Ort zu solchem internationalen Stelldichein. Sie ist deutsch, und zugleich ein Durchgangspunkt für die verschiedensten Nationalitäten; sie ist gastfreundlich und von der Natur mit den Reizen einer herrlichen Lage und Umgebung begnadet; sie hat eine ehrwürdige Geschichte und dabei eine unvergleichliche Empfänglichkeit für alles Moderne und Gegenwärtige. Ihre Schönheit ist international, ihre literarische und künstlerische Entwickelung vielgestaltig und mannigfach; sie darf auf ihre Frauen stolz sein und sich berühmen, daß sie des Zusammenhanges mit dem großen nationalen Ganzen, dessen Sprache sie redet, niemals verlustig gegangen, obwohl der Versucher nicht rastete, um sie dem Deutschthum abwendig zu machen.

Im Allgemeinen zeigen Feste dieser Art stets die nämliche Physiognomie, der Wiener aber besitzt einen Spruch, in welchem zugleich sein Können und sein Selbstbewußtsein sich ausdrückt; er sagt, wenn er etwas Schönes vollbracht, mit schalkhafter Selbstgefälligkeit: „Sollen’ s uns nachmachen!“ Und das ist freilich schwer. Wo immer der deutsche Schriftstellerverband der internationale literarische Congreß in Zunkunft tagen werden, es wird ihnen Gleiches kaum geboten werden können, wie es ihnen in diesen Wiener Septembertagen geboten ward. Das Verdienst aber, ein Fest von unverlöschlichem Reize veranstaltet zu haben, gebührt der „Concordia“, für welche deren Präsident, Johannes Nordmann, und als Obmann des Festcomités deren Mitglied Edgar Spiegl mit voller Kraft eintraten, welcher in dankenswerther Bereitwilligkeit der Bürgermeister von Wien, Dr. Julius von Newald, zu Hülfe kam. So wurde das Fest zugleich ein Fest der Stadt Wien und des Wiener Schriftstellerthums, und wer dieser doppelten Gastfreundschaft genoß, durfte sagen, er habe sich nicht blos bei den Wiener Berufsgenossen sondern in Wien selbst wahrhaft zu Hause gefühlt.

Da liegt das zierliche Büchlein vor mir, welches als Festprogramm den Gästen überreicht wurde, die niedliche goldene Feder, welche den Festtheilnehmern als Abzeichen diente, und das Cigarrenetui, das wohlgefüllt einem jeden Gaste zu Theil ward, der zu dem Bankett der Commune erschien. Und daneben liegen Photographien alter und neugewonnener Freunde, Festgedichte, Visitkarten und Sträußlein von herrlichem Edelweiß. Vorbei, vorbei! Es sind ja gewesene Tage, aber ihr Glanz bleibt unvermindert in der Erinnerung. Ich sehe sie vor mir, die Gestalten welche in den Vordergrund traten, und auch die Orte, wo es geschah. Eine lange Tafel, mit Blumen geschmückt, flankirt den Mittelsaal in der „Gartenbaugesellschaft“, unter deren Portal sich die Wagen drängen, welche von der prächtigen Ringstraße dahergefahren kommen. An dieser Tafel, von der aus der Blick in die beiden buntbelebten Seitensäle schweift, sitzen die Honoratioren unter den literarischen Gästen, Männer und Frauen verschiedenen Alters, aber fast allesammt im Besitze klangvoller Namen. Ich sehe Friedrich Bodenstedt, der schmunzelnd die Huldigungen poesiebeflissener Damen entgegennimmt, was ihn, den liebenswürdigen Epienräer, nicht hindert, dazwischen eine respectable Portion Fisch zu verzehren. Nicht weit davon thront Louis Ulbach aus Paris, der einem Cardinal ähnelt und das Band der Ehrenlegion trägt, welches Jules Lermina, der Generalsecretär des internationalen Congresses, an sich vermissen läßt, vermuthlich, weil es seine schier wunderbare Beweglichkeit beeinträchtigen und zu seinem blatternarbigen schnurrbärtigen Gesichte eine falsche Zuthat

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_739.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2021)