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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

hin und her schnellen, bildet die mächtigen Contouren eines seiner Vollendung entgegengehenden Riesenbaues, der weit berühmten East-River-Brücke.

Mit Recht wird dieser Bau schon heute unter die Wunder der Welt gezählt; er gereicht Amerika zu einer seiner stolzesten Zierden. Aber wir haben auf unserer Wanderung um die Erde noch eine besondere Veranlassung, hier, an dem Ufer des East-River etwas länger zu weilen und dem großen Werke die vollste Beachtung zu schenken; denn wohl haben amerikanisches Capital und amerikanische Hände vom Meeresgrund auf die beiden hohen Säulen aufgethürmt und zwischen ihnen die eisernen Netze gezogen, aber ein deutscher Mann war es, der in schwieriger Gedankenarbeit den Plan zu diesem Werke entworfen hat – darum: welche Flagge von den Zinnen des stolzen Baues auch jemals wehen wird, er selbst wird der Menschheit dienen als ein Kind des deutschen Geistes, er wird die brandenden Fluthen überragen als ein Zeuge des deutschen Genius.

Die Wiege des Schöpfers der East-River-Brücke stand in dem waldigen Thüringen, wo Johann Roebling am 12. Juni des Jahres 1806 in Mühlhausen das Licht der Welt erblickte. Schon im Jahre 1831 wanderte der junge Ingenieur, nachdem er die Stelle des Inspectors der öffentlichen Bauten in Westfalen bekleidet hatte, nach Amerika aus, und hier, in seiner neuen Heimath, gelang es ihm bald, die Hängebrücken, die man in Europa als wenig sichere Verkehrsmittel geringschätzte, in der Construction zu verbessern und im großartigsten Maßstabe auszuführen. Zunächst lebte er bei Pittsburg, später, seit 1850, in Trenton im Staate New-Jersey und wurde hier bald als Wasserbaumeister berühmt; denn er leitete die Uferbauten am Beaver-River und die Canalbauten zwischen dem Ohio und Eriesee. Nachdem er aber die letzteren beendigt hatte, wandte er sich ausschließlich der Construction der Hängebrücken zu und erbaute, von den kleineren Brücken bei Pittsburg abgesehen, in den Jahren 1851 bis 1855 die Hängebrücke von Niagara, die einzige dieser Art, welche von Eisenbahnzügen befahren wird und unter allen Eisenbahnbrücken und Viaducten der Welt durch ihre früher niemals erreichte Brückenöffnung von 244 Meter Länge einen besonderen Platz einnimmt. Ermuthigt durch diese ersten großen Erfolge, wurde Roebling in seinen Plänen immer kühner, und die 1867 in Cincinnati von ihm erbaute Hängebrücke hatte bereits eine freischwebende Länge von 322 Meter. Bei allen diesen Bauten hat er von der früher üblichen Verwendung eiserner Ketten abgesehen und als Träger der Brückenbahn stets Kabeln aus Eisen- oder Stahldraht verwendet, weil er richtig erkannte, daß die Tragfähigkeit des zum Drahte ausgezogenen Eisens diejenige der gewöhnlichen Ketten weit übertreffe.

Nach solchen Proben seiner Tüchtigkeit ward der Ruf Roebling’s so groß, daß er sich an die Ausführung eines Projectes wagen durfte, an dem bis dahin die Pläne vieler tüchtiger Ingenieure gescheitert waren, an die Herstellung einer festen Verbindung zwischen den mächtig aufgeblühten Städten New-York und Brooklyn.

Wir müssen zum besseren Verständnisse des Unternehmens für die mit den amerikanischen Verhältnissen nicht genau Vertrauten vorausschicken, daß die New-Yorker Städtegruppe, welche nach London und Paris die drittgrößte Einwohnerzahl aufweist, aus vier neben einander liegenden Städten gebildet wird. Es sind dies New-York, Brooklyn, Hoboken und Jersey-City. Die beiden bedeutendsten dieser Städte, New-York, welches mit mehr als einer Million Einwohner sich auf der Manhattan-Insel erhebt, und Brooklyn, das auf „Long-Island“ ungefähr eine halbe Million Seelen birgt, sind von einander durch einen Meeresarm getrennt, welcher den Namen East-River trägt.

Der äußerst rege Verkehr zwischen den beiden belebten Handelsplätzen wird bis jetzt einzig und allein durch Dampffähren und Boote bewerkstelligt, und diese Art der Personen- und Waarenbeförderung ist, wie leicht erklärlich, mit vielen Uebelständen verbunden. Einerseits stören die quer durch den Canal von Brooklyn nach New-York und in umgekehrter Richtung fahrenden Transportboote die zahllosen Schiffe, welche ihren Lauf den East-River entlang nehmen müssen; andererseits wird im Winter die Communication zwischen den beiden Städten durch die Eisschollen, welche auf dem East-River treiben, oft stundenlang unterbrochen. Es galt daher, alle diese Uebelstände durch die Erbauung einer Brücke zu beseitigen, welche, sozusagen, New-York und Brooklyn in zwei Quartiere einer und derselben Stadt verwandeln und dabei den tausend Schiffen, die täglich den East-River passiren, gestatten würde, unter dem Brückenkörper mit vollen Segeln ihren Lauf fortzusetzen.

Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe ist thatsächlich Johann Roebling gelungen, welcher im Jahre 1867 den genauen Plan der gegenwärtig ihrer Vollendung entgegengehenden East-River-Suspension-Bridge ausarbeitete. Aber dem berühmten Ingenieur war es nicht vergönnt, die Verwirklichung seines stolzesten Gedankens mit eigenen Augen zu schauen.

Wie Riquet, der Erbauer des französischen Südcanals, Borel, der Leiter des Durchstiches der Landenge von Suez, Sommeiller, der Ingenieur des Mont-Cenis-Tunnels, Meiggs, der Schöpfer der wunderbaren Bahn über die Anden, und Favre, der Unternehmer des Gotthard-Tunnels – wie alle diese Männer von dem Tode ereilt wurden, bevor ihre Schöpfungen vollendet waren, so starb auch Johann Roebling am 22. Juli 1869 in Brooklyn, bevor der erste Spatenstich zu seinem Werke gethan wurde, welches in genauen Zeichnungen und langen Ziffernreihen von ihm bis auf die kleinste Einzelheit auf den Plankarten ausgeführt war. Wir erinnern uns dabei der Worte, welche bei ähnlicher Gelegenheit der Franzose Ch. Boissay niederschrieb: „Die Sorgen nutzen ab – das ist verständlich; die Erfinder und Forscher opfern ihr Leben für ihre Idee und sterben, bevor sie ihr Ziel erreicht haben; seit Moses mußten die Menschen sich diesem gewöhnlichen Lauf der Dinge unterwerfen.“

Kurz nach dem Tode Johann Roebling’s ging sein Sohn, Washington Roebling, an die Ausführung des Projectes, welche nunmehr soweit gediehen ist, daß wir in der Lage sind, eine genaue Beschreibung der East-River-Brücke, wie sie voraussichtlich binnen Jahresfrist vollendet sein wird, im Nachstehenden zu liefern.

Die Gesammtlänge derselben beträgt 1053 Meter, also eine Siebentel deutsche Meile, welche gewaltige Entfernung nur von drei Brückenbogen überspannt wird. Die beiden seitlichen Bogen haben eine Länge von je 283 Meter, während der mittlere Bogen in einer fast unerhörten Spannung von 486 Meter frei über dem Wasser schwebt. Es ist dies die größte Brückenöffnung der Welt, und sie ist beiläufig zweimal so groß, wie der ganze Pont-Neuf in Paris, der eine Gesammtlänge von 233 Meter hat und aus 12 Brückenbogen gebildet wird.

Der Brückenkörper ist auf vier Kabeln aufgehängt, von denen jedes einen Durchmesser von 39 Centimeter hat und aus 6224 parallel neben einander zusammengelegten Stahldrähten besteht. Jedes dieser stählernen Drahtgebinde, deren Dicke derjenigen eines erwachsenen Mannes gleichkommt, ist 1090 Meter lang, vermag allein 11,380,000 Kilogramm zu tragen und wiegt selbst gegen 88,000 Kilogramm.

Diese vier Kabel sind nun an den Spitzen zweier gewaltiger, auf dem Meeresgrunde erbauter Säulen aufgehängt und tragen den eigentlichen Brückenkörper, unterstützt durch sechs eiserne Balken und 280 Ketten, die an den Säulen befestigt wurden.

Der Bau des Werkes begann am 26. December des Jahres 1869 mit der Construction dieser kolossalen Thürme. Es mag erwähnt werden, daß die Spitzen derselben den Meeresspiegel zur Zeit der höchsten Fluth um 84 Meter überragen, ihre Fundamente aber sich noch tief in den Meeresgrund hinein versenken, sodaß z. B. die Gesammthöhe der am New-Yorker Ufer stehenden Säule vom Fundamente bis zur Spitze die pyramidale Höhe von 114 Meter erreicht. Zu dem Bau dieser einen Säule wurden allein 36,160 Cubikmeter Mauerwerk in einem Gesammtgewichte von circa 100 Millionen Kilogramm verwendet.

Schon diese wenigen Zahlen genügen, um selbst den Laien ahnen zu lassen, daß bei der Errichtung eines derartigen Werkes mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten gekämpft werden mußte, und es verlohnt sich wohl, den Gang der Arbeiten bei der East-River-Brücke, wenn auch flüchtig, zu verfolgen.

Sie sind in der That bewunderungswürdiger, als die Erzählungen von dem Bau der Pyramiden, der hängenden Gärten der Semiramis und anderer ähnlicher Weltwunder, die in der Schule unser Staunen erregten; denn diese mühevollen Arbeiten zeugen beredt von dem ungeahnten Fortschritt der modernen Technik, welche, mit der Zaubermacht der exacten Wissenschaften ausgerüstet, den Grund des Oceans und den Schooß der Berge der Cultur zu erschließen und dem Menschen dienstbar zu machen vermag.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_798.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)