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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

genug kosten ließ. Dieser feingebildete, auch in den höchsten Formen der Composition selbstgeübte und gewandte Musiker wurde Mendelssohn’s treuester Helfer. Schumann nannte ihn „die rechte Hand des Orchesters, einen Musiker, der über Berge hinüber hört.“ Neben ihm standen an den Pulten noch Queißer, Grenser, Ulrich, der Componist C. G. Müller, später Director der „Euterpe“, und eine andere Reihe außerordentlicher Musiker.

Auch den Programmen verstand Mendelssohn neues Leben einzuhauchen. Er veranstaltete historische Concerte, und dabei griff er auf den alten Johann Sebastian Bach zurück, dessen D-dur-Suite wie ein Riese unter die moderne Gesellschaft trat. „Bach wiegt uns sammt und sonders auf dem kleinen Finger,“ rief Robert Schumann aus. Damals war es, daß bei Gelegenheit des von Mendelssohn gespielten D-moll-Clavierconcerts von Bach derselbe Schumann eine Gesammtausgabe von Bach’s Werken in Anregung brachte, eine Idee, welche der Musikverleger Peters schon im Jahre 1800 – zur großen Freude Beethoven’s – gehegt hatte, welche aber erst in den fünfziger Jahren durch die „Bach-Gesellschaft“ zur Verwirklichung gelangte.

Es war, als sei mit Mendelssohn ein neuer Frühling in’s Gewandhaus gezogen; denn eine ganze Reihe neuer Componisten trat plötzlich auf. In allen Ländern begann es auf Mendelssohn’s Wink zu singen. Aus Holland kam Verhulst, aus Skandinavien Gade, aus England Bennett, und Alle mit frischen, blühenden Compositionen. Nennen wir bei dieser Gelegenheit auch gleich Berlioz mit, der in der Zeit von Mendelssohn’s Direction Frankreich im Gewandhaussaale vertrat und mit seinen phantastischen Werken die Meinungen lebhaft entfachte. Leipzig wurde jetzt zum Mekka aller Musiker.

Von den Mitstrebenden deutscher Nation, die ihre Opfer im Gewandhaussaale brachten, sei besonders Norbert Bergmüller genannt, der geniale Freund des unglücklichen Grabbe. Leider starb er, erst sechsundzwanzigjährig, im Jahre 1836. Seine Symphonie, die Mendelssohn im Winter von 1837 zu 1838 aufführte, war vielleicht das bedeutendste Werk, welches jene Zeit im Symphonienfache hervorgebracht; sie sollte nicht vergessen sein. Auch der den Lesern der „Gartenlaube“ speciell bekannte J. C. Lobe erschien in der Zeit von Mendelssohn’s Direction vor dem Leipziger Gewandhaus-Publicum als Componist; als Flötenvirtuos hatte er sich hier schon in seinem dreizehnten Lebensjahre vorgestellt, und es hieß damals: „er spielt wie ein Mann.“ Auf Gegenwart und Vergangenheit erstreckte sich Mendelssohn’s Macht, wie den alten Bach, so rief er einen anderen großen Unbekannten aus dem Grabe vor das Gewandhaus-Publicum. Das war Franz Schubert mit seiner C-dur-Symphonie, die Robert Schumann in Wien entdeckt und eingesandt hatte. Auch die vier „Leonoren“-Ouvertüren mit einander zu hören, glückte dem Gewandhaus-Publicum zum ersten Mal durch Mendelssohn, und unter seiner Direction wurde auch Robert Schumann, der große Zeitgenosse Mendelssohn’s, nun dem Publicum endlich bekannt. Wie man ihn in Wien blos als den „Mann der Clara Wieck“ ansah, so war er auch in Leipzig in seinem eigentlichen Werthe unbeachtet geblieben. Einzelne seiner Claviercompositionen waren vorgetragen worden und „gingen still vorüber“. Jetzt zeigte ihn Mendelssohn als den Symphoniker, und von da an war seine Position fertig. Heute zählt er, dank namentlich den Bemühungen des jetzigen Dirigenten, zu den erklärtesten Lieblingen des Gewandhauses, das er selbst liebte und zu preisen wußte, wie kein Zweiter. Auch der eben erwähnte gegenwärtige Dirigent des Gewandhauses, Karl Reinecke, allen musikalischen Lesern der „Gartenlaube“ eine liebe und vertraute Persönlichkeit, debütirte noch in der Mendelssohn’schen Zeit im Gewandhause als Pianist.

Es war eine herrliche Zeit für das Gewandhaus – die Zeit Mendelssohn’s, und noch heutigen Tages leuchten den alten Leipziger Musikfreunden die Augen, wenn sie von dieser Zeit sprechen. Die Stadt Leipzig machte Mendelssohn zum Ehrenbürger; die Universität verlieh im den Doctortitel honoris causa, aber leider wurde der geniale Mann seinem geliebten Wirkungskreise schon im Jahre 1847 entrissen. Das war eine große Trauer weit über die Mauern der Pleißenstadt hinaus.

Mendelssohn’s Freund, David, blieb dem Institut noch bis zum Jahre 1873 erhalten. Auch während Mendelssohn’s Lebzeit hat er diesen zeitweilig in der Direction vertreten. Ferdinand Hiller (geboren 1811 zu Frankfurt, Capellmeister in Köln) und Niels Gade (geboren 1817 zu Kopenhagen, daselbst Capellmeister) wurden substituirt.

Letzterer übernahm die Direction auch noch einmal auf anderthalb Jahre in der Periode 1848 bis 1860, als deren Repräsentant Julius Rietz anzuführen ist. In Berlin im Jahre 1812 geboren, also wenig jünger als Mendelssohn, war Rietz mit diesem von Jugend auf befreundet. Von ihm wurde er nach Düsseldorf gezogen und folgte ihm dort später im Amte. Auch in Leipzig wurde er Mendelssohn’s Nachfolger. Ein feiner Musiker, wie Rietz war, dazu ein geborener Dirigent, schon durch den Jupiter-Kopf, den scharfen Blick und das kurze Wort imponirend, hielt er das Institut mit leichter Mühe auf der Höhe, auf welche es sein großer Freund und Vorgänger gestellt. Zum allgemeinen Bedauern wurde er im Jahre 1860 als Hofcapellmeister nach Dresden berufen, wo er im Jahre 1877 als königlich sächsischer Generalmusikdirector starb. Ihm war es vergönnt, lange Zeit die Musikfreunde des Gewandhauses mit verborgenen Schätzen aus dem Nachlasse Mendelssohn’s zu erfreuen. Unter seiner Direction debütirten die Pauliner, seit länger als zwanzig Jahren nun Stützen des dem Institute zuständigen Chors und Lieblinge des Publicums. Unter den Virtuosen von Distinction, denen wir in der Rietz’schen Periode im Gewandhause begegnen, seien die Pianistin Wilhelmine Clauß-Szarvady und der Sänger Stockhausen genannt, unter den Componisten H. Ulrich, Reinthaler, Bargiel, Bruch, Reinecke, Veit, Wuerst, A. Dietrich und vor Allem Johannes Brahms.

Mit der neuesten Periode, der verdienstvollen Direction Karl Reinecke’s (geboren am 12. Juni 1824 zu Altona), betreten wir ein Terrain, das allen musikalischen Lesern der „Gartenlaube“ zu gut bekannt ist, als daß wir uns die weitere Fortsetzung des Ciceronenamtes gestatten dürften. Wir nehmen von dem Jubilar mit dem Bewußtsein Abschied, daß er trotz seiner hundert Jahre kein Greis ist. Wie bekannt, denken die Gewandhaus-Concerte an einen neuen Umzug; ihr zukünftiges Heim, welches ihnen Räumlichkeiten bieten soll, die den veränderten Größenverhältnissen der Stadt, den hochgesteigerten Ansprüchen der Chorbesetzung entsprechen, wird hoffentlich in nicht zu langer Zeit geschaffen sein. Die großen Mittel, welche die Errichtung fordert, zeichneten Leipzigs Musikfreunde hochherzig und schnell. Möge derselbe gute Sinn, dem das Gewandhaus seine Blüthe verdankt, immer fortleben, möge das Institut weiter und weiter gedeihen zum Heil der Kunst, zum Heil der Menschheit!




Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments.
Von Dr. Kalthoff.
I.
Die ältesten Urkunden des Christenthums.
Motto: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“

Der Versuch, dem Leserkreise der „Gartenlaube“ die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments in großen Zügen vorzuführen, bedarf kaum einer besonderen Rechtfertigung. Wer nur halbwegs mit der Entwickelung unserer Zeit gleichen Schritt gehalten hat, der ist sich darüber vollständig klar, daß der Anspruch der orthodoxen Kirche, in der Bibel einen unfehlbaren Glaubenscodex, eine unbedingte göttliche Autorität zu besitzen, vor der fortschreitenden Wissenschaft in nichts zusammenfällt. Fast bis zum Ueberdruß oft ist auf die Widersprüche, die zwischen den einzelnen Büchern der Bibel bestehen, auf die historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Irrthümer, selbst auf die einseitigen sittlichen und religiösen Anschauungen, die sich in der Bibel finden, hingewiesen worden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_803.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)