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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Doch war bis jetzt der Kampf nur im Geheimen, durch namenlose Abgesandte aus Jerusalem geführt worden, und das Uebergewicht der Persönlichkeit des Paulus hielt die Gegner noch einigermaßen im Zaume. Als aber Paulus von dem tragischen Geschick ereilt wurde, daß er zum Dank für die Geldunterstützung, die er der unter der Hungersnoth leidenden Gemeinde zu Jerusalem überbringen wollte, von seinen eigenen Glaubensgenossen, denen er zu helfen gekommen war, der Gefangenschaft überliefert wurde, war die Gelegenheit zu einer officiellen Bekämpfung des Paulinismus gekommen. Die älteste und bedeutendste dieser der Bekämpfung des Paulus gewidmeten Schriften ist die in das Neue Testament ebenfalls aufgenommene Offenbarung Johannis.

Bekanntlich hat dieses räthselhafte Buch den Theologen zu allen Zeiten viel Kopfzerbrechens gemacht, und noch heute sind die Acten, über dasselbe nicht vollständig geschlossen. Man hielt die Offenbarung lange Zeit für eine Weissagung auf eine mehr oder weniger ferne Zukunft und machte dadurch das Verständniß des Buches unmöglich, bis die neuere Kritik entdeckte, daß man es hier mit einer prophetischen Behandlung der Zeit, in der das Buch geschrieben war, zu thun habe. Von jeher war es im Alten Testamente beliebt, den Inhalt aller nationalen Hoffnungen durch prophetische Bilder auszudrücken. Je schroffer nun seit den Tagen der Verbannung der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und den nationalen Wünschen hervortrat, desto gewaltsamer suchte man sich durch eine prophetische Behandlung der jeweiligen Gegenwart über die Misere der Zeit hinwegzusetzen. So entstanden künstliche Nachbildungen der alten Prophetien, welche den Zweck hatten, die dunklen Nachtseiten der politischen Lage der Juden mit dem Lichte des nationalen Glaubens zu erhellen. Das älteste Denkmal dieser Art „Offenbarungen“ ist das Buch Daniel (um 163 vor Christo), dem noch mehrere ähnliche Erzeugnisse folgten. Da diese „Offenbarungen“ nur für die Eingeweihten bestimmt waren, so hüllten sie sich mehr und mehr in ein mystisches Gewand, indem man eine Geheimlehre erfand, in der nach dem Vorgange der Neupythagoräer der Zahl eine tiefere symbolische Bedeutung beigelegt wurde. Eine christliche Nachbildung dieser Art „Apokalypsen“ ist die Offenbarung Johannis.

Was zunächst die Zeit, in der das Buch abgefaßt ist, betrifft, so scheint dasselbe aus der nächsten Zeit nach dem Tode des Kaisers Nero (gestorben 9. Juni 68) zu stammen. Die neronische Christenverfolgung hat schon ihre Opfer gefordert. Das ehebrecherische Weib, die stolze Roma, ist trunken vom Blute der Heiligen. Der Seher sieht unter dem Altare die Seelen Derer, die um ihres Glaubens willen erwürgt sind, angethan mit dem weißen Kleide des Martyriums. Der jüdische Krieg ist entbrannt. Auf dem rothen Pferde sitzt ein Reiter, ein großes Schwert in der Hand, und ihm ist gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde. Andererseits ist der Tempel in Jerusalem noch nicht zerstört. Aber die Gemüther sind erfüllt von der Erwartung, daß Nero, das satanische Gegenbild Christi, mit neuen Heerschaaren wiederkehren und nicht nur Rom, sondern auch Jerusalem einnehmen werde. So wird die Zeit der Abfassung der „Offenbarung Johannis“ in den Anfang des Jahres 69, kurz vor die Ermordung Galba’s, zu setzen sein. Wir haben also hier ebenfalls eine der ältesten Urkunden des Christenthums vor uns – aber welch anderer Geist weht in dieser Schrift als in den Briefen des Paulus! Auch sie ist im Großen und Ganzen für dasselbe Publicum bestimmt, für das Paulus geschrieben, für die Gemeinden des proconsularischen Asiens, ja sie richtet sich direct an Gemeinden, die Paulus gestiftet.

Man hat darüber gestritten, ob es wirklich der Apostel Johannes ist, der hier mit dem ganzen Gewichte seines Ansehens gegen den Paulus in die Schranken tritt. Aeußere Gründe gegen die Abfassung der Offenbarung durch Johannes liegen nicht vor – im Gegentheile spricht die alte Ueberlieferung entschieden für Johannes. Und die Züge, die wir aus dem Inhalte der Offenbarung für den Charakter des Verfassers zu entnehmen vermögen, stimmen durchaus mit dem Charakterbilde des Johannes, das uns anderweitig überliefert worden ist. Wir dürfen allerdings bei diesem Johannes nicht an den Verfasser des vierten Evangeliums, an den Jünger, den „Jesus lieb hatte“, der „an der Brust Jesu“ lag, nicht an den Verfasser der Johanneischen Briefe, der als höchsten Inhalt des christlichen Gottesbewußtseins die Liebe hinstellt, denken; denn der geschichtliche Johannes ist ganz anders geartet. Er ist aus härterem Stoffe. Er ist einer der Donnersöhne, die Feuer vom Himmel auf die samaritanischen Städte herniederbeten möchten, als dieselben einmal den Meister nicht aufnehmen wollen. Er gehört zu den Säulenaposteln in Jerusalem, zu den gesetzeseifrigen Judenchristen, und diesem Geiste des Donnersohnes entspricht die Offenbarung. Auch hier wird Feuer vom Himmel auf Alle herniedergeholt, die nicht zu der Fahne des Apostels schwören.

Das Christusbild der Offenbarung ist nicht das des Weltenheilandes, des stillen sanften Menschenfreundes; es ist das Bild des jüdischen Messias, der in den Wolken des Himmels kommt, um alle seine Feinde zu zermalmen. Und zu diesen Feinden gehören in erster Linie alle Nichtjuden, gehört auch der falsche Apostel, der sich selbst für einen Apostel ausgiebt, aber als Lügner erfunden worden ist. Dieser falsche Apostel, der Paulus, hat ja das Essen des Götzenopferfleisches freigegeben. Jene Secte der Nikolaiten, welche die Offenbarung bekämpft, ist ja nichts Anderes, als eine mystische Bezeichnung der Anhänger des Paulus, denen der Apokalyptiker Schuld giebt, daß sie das Wort ihres Lehrers: „Alles ist mir erlaubt“, zum Deckmantel fleischlicher Ausschreitungen machen. Die Pauliner sagen wohl auch, sie seien Juden, aber sie sind die Synagoge des Satans. Hatte Paulus behauptet, daß der Geist alle Dinge erforsche, auch die Tiefen der Gottheit, so meint der Apokalyptiker, daß dieses gesetzesfreie Christenthum vielmehr die Tiefen des Satans erforsche. Es ist demnach der Standpunkt des extremsten Judaismus, auf dem die Offenbarung steht. Alles Heidenthum ist an sich Antichristenthum. Hier heißt es: kalt oder warm sein. Wer, wie die Pauliner, dem Heidenthum gegenüber lau ist, wer wohl gar für die Zulassung der Heiden zum Gottesreich eintritt, wird ausgespieen aus dem Munde Gottes.

Man kann es tief bedauern, daß die Kirche ein solches Buch, wie die „Offenbarung“, unter ihre „heiligen“ Schriften aufgenommen hat; denn aller Fanatismus späterer Jahrhunderte hat sich wesentlich an diesem Buche genährt. Die Blutgerichte der späteren Kirche, die Scheiterhaufen des Mittelalters sind nichts als die Erzeugnisse des apokalyptischen Geistes, und dieser Geist ist wahrlich nicht der Geist des Nazareners, der nicht gekommen war, der Menschen Seelen zu verderben.

Doch ist auch dieser fanatische Vorkämpfer eines engherzigen und unduldsamen Kirchenthums von der großen universellen Idee des Christenthums nicht völlig unberührt geblieben. Wohl kann sich der Apokalyptiker die religiöse Entwickelung nicht anders denken, als daß dieselbe über rauchende Trümmerhaufen und über die blutigen Gebeine der Heiden hinwegführt. Aber in der prophetischen Perspektive bleibt ihm doch die Ahnung, daß das Menschengeschlecht zu etwas Besserem, als zu Mord und Todtschlag berufen ist. Die arg mißhandelten und verzerrten Ideale flüchten sich in die Idee eines tausendjährigen Reiches, wo ein neuer Himmel über eine neue Erde sich wölbt, wo die Thränen abgewischt werden, kein Leid, kein Geschrei, keine Schmerzen mehr sein werden, sondern eine Hütte Gottes bei den Menschen.

So haben wir drei verschiedene Auffassungen des Christenthums in der ältesten Zeit vor uns. Erstens: die die historische Erscheinung Jesu einfach reproducirende, im verloren gegangenen Urevangelium des Matthäus niedergelegte Tradition; zweitens: das paulinische; drittens: das apokalyptische Christenthum.

Es wird in zwei ferneren Artikeln Aufgabe sein, zu zeigen, wie diese verschiedenen Auffassungen weiterhin auf einander eingewirkt haben und wie sie durch die geschichtliche Entwickelung mit einander vermittelt worden sind.




Blätter und Blüthen.

„Ein reizendes Buch“ nennt ein bekannter Naturforscher das Werkchen, in welchem der Ornitholog Dr. A. C. E. Baldamus eine Reihe von Forschungen und Belehrungen über das Leben der gefiederten Welt in einem entsprechenden Gewande darbietet. „Vogelmärchen“ betitelt der Verfasser sein Buch, gesteht aber im Vorwort selbst in scherzender Weise zu, daß es eigentlich keine Märchen seien. Er hat die Form der Thierfabel benutzt, um den Leser in das von ihm jahrelang beobachtete, dem Laienauge verborgene Familienleben und gesellige Treiben gerade derjenigen Vogel einzuführen, für welche er so gern den Ruf an alle

fühlenden Herzen richtete: „Liebe auch du meine Lieblinge und trage, so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_807.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)