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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

spazierten seitwärts im dämmernden Schneefelde, schwarz und gravitätisch, das Trauergefolge der erstorbenen Natur. Herr von Pannewitz saß hinten und handhabte die schwere Schlittenpeitsche; vorn drückten die Schwestern sich fröstelnd an einander.

„Es war gut, daß wir Anne-Marie nicht gesagt haben, von wem der entzückende Schlitten eigentlich stammt,“ sprach es aus dem einen der blauen Schleier. „Sie hätte ihn nie wieder benutzt.“

„Wer weiß, ob es gut war? Denn daß er Absichten hat, daran hätte sie dann so wenig gezweifelt wie wir. Man verschenkt keine solche Schlitten auf’s Gerathewohl. Meinst Du nicht, Papa?“ fragte es aus dem anderen Schleier.

„Meinetwegen: ja, Kinder! Laßt mich aus dem Spiel! Ich habe Aerger genug mit der Sache.“

„Klatsch!“ sagte die Peitsche, und es klang so mißmuthig, wie die Rede des Herrn von Pannewitz.

„Aber der Rahmen ist Anne-Mariens Arbeit; darauf verwette ich Kopf und Kragen. Ich glaube bestimmt, daß sie den Vetter liebt – gerade, weil sie nichts davon hören wollte.“

Und wieder ein paar Stunden später saß Curt von Boddin am Schreibtisch; er hatte den Rahmen vor sich mit Anne-Mariens Bild darin. Wer weiß, wie lange er schon davor gesessen! Er betrachtete die Edelweißblumen und die Vergißmeinnicht.

„Ich wollte, mein Leven schlösse sich, um Deines herum, Cousine Lebzow,“ sagte er seufzend. „Aber es geht nicht an. Lebe wohl, reizende Anne-Marie!“

Nun nahm er den Rahmen, zog unten am Schreibtische eine Schublade auf und legte das Ganze hinein. Kreischend fuhr der Schlüssel um. Dann beschien die Arbeitslampe eine Weile sein unbewegtes, ernstes Gesicht, das er in die Hand stützte.

(Fortsetzung folgt.)


Johann Caspar Bluntschli.

Ein Streiter für die Wohlfahrt der Menschheit.

In unserer Zeit, welche mit so souverainer Gewalt über die Naturkräfte verfügt, daß in ihr Zeichen und Wunder in voller Leibhaftigkeit geschehen, scheint auch das alte Gesetz aufgehoben zu sein, das der Schaffenskraft des Mannes mit den Jahren des Alters immer engere Schranken zieht und ihn endlich zur Unthätigkeit verurtheilt.

So war es denn auch nur ein Beispiel unter vielen, das der am 21. October dieses Jahres in seinem dreiundsiebenzigsten Jahre verstorbene Geheimrath und Professor Johann Caspar Bluntschli wieder für die Wahrheit dieses eigenthümlichen Satzes lieferte.

Es war kein Greis, der da starb, wenn ihn auch die Jahre äußerlich dazu stempelten; es war ein Mann, der nicht von geborgener Warte in ruhiger Beschaulichkeit auf das tausendfältige Getriebe der Zeit hinabsah, sondern noch mit klarem Kopfe und fester Hand in dasselbe mit eingriff, ordnend, richtend, mahnend und fördernd. Vielleicht war es aber doch die ungewöhnliche Expansion der Kräfte, welche den Faden seines Lebens so rasch wie mit einem Rucke zerriß; denn der Umfang seines Tätigkeitskreises war mit den Jahren beständig gewachsen.

Das moderne Princip der Arbeitstheilung, das die „Specialität“ geschaffen hat, fand vor Bluntschli keine Beachtung, und ein mächtiger Drang nach universeller Thätigkeit hat sein Leben von Anbeginn beherrscht. Es war nicht blos ein Professor des Staats- und Völkerrechts, den sie an der örtlichen Heimath seines Wirkens, im schönen Heidelberg, jüngst begruben – Bluntschli war mehr, weit mehr. Der Raum einer Visitenkarte wäre zu klein gewesen, hätte er unter seinen Namen alle die Titel, Würden, Aemter und Ehrenposten setzen wollen, welche die Ausstrahlungen seiner Thätigkeit markirten. Und wenn es gälte seinen Ruhm und sein Andenken in Beschlag zu nehmen, so würden sich neben der Rechtswissenschaft auch die Philosophien die Theologie, die Geschichte, die Politik, das Vaterland und nicht zuletzt die Menschheit selbst, deren Liebesapostel er war wie kaum ein Anderer, gegenseitig den Rang streitig machen.

Bluntschli war von Geburt ein Schweizer, der am 7. März 1808 geborene Sohn schlichter alteingesessener Züricher Bürgersleute. Er ist auch seinem Schweizerlande treu geblieben bis hinaus in die Mitte seines Alters; nur als sie ihn dort verkannten und nicht mehr verstanden, ist er ein Deutscher geworden, aber auch der ist er nicht geblieben; er wuchs mehr und mehr heran zu einem internationalen Charakter; er ward ein „Abgeordneter der Menschheit“, wie alle die, welche, um weiter mit dem Marquis Posa zu reden, „der Menschheit Glück aus ihrem Füllhorn strömen“.

Als die Eltern den begabten Jüngling für die Wissenschaft zu erziehen trachteten, sandten sie ihn auf deutsche Universitäten; denn die Schweiz besaß damals noch keine Hochschulen in unserm Sinne. Von Haus aus für die Theologie bestimmt, aber das Beengende der Schranken bald empfindend, welche diese Wissenschaft dem weiten und hohen Fluge seines Schaffensdranges anwies, wandte er sich frühzeitig dem Studium der Rechtswissenschaft zu, hörte aber schon in Berlin neben Savigny noch Schleiermacher und in Bonn neben Hasse noch Niebuhr. In diesem Streben nach Vielseitigkeit hat er zeitlebens beharrt.

In seiner Heimath Zürich hielt er neben seiner Amtirung beim Bezirksgericht noch Vorlesungen an dem Polytechnischen Institute und trieb außerdem schweizerische Politik. Dazu regten ihn die damaligen Schweizer Verhältnisse, besonders auch in Zürich, lebhaft an. Es war ein Zustand des Gährens und Werdens. Gegenüber dem aus dem Mittelalter überkommenen aristokratischen Stadtregimente strebte das unterdrückte Land nach einer größeren Selbstständigkeit. Die jüngeren, aus deutschen Universitäten gebildeten Kräfte einten sich, unter Führung von Bluntschli’s früherem Lehrer, Ludwig Zeller, zu einer „wissenschaftlichen Reformpartei“. Ihnen schloß sich Bluntschli an, und eine Frucht dieser Anschauungen waren seine ersten Schriften: „Das Volk und der Souverain“ und „Die Verfassung der Stadt Zürich“. Darin werden unter Anderen Gleichstellung von Stadt und Land, Unabhängigkeit der Gerichte, Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung, Aufhebung der halbgeistlichen Ehegerichte verlangt. Der Ausbruch der Schweizer Revolutionskämpfe Ende der dreißiger Jahre brachte eine Spaltung in die Partei, welche in eine radicale und eine conservative Hälfte zerfiel. Bluntschli, der sich bereits in seinen Schriften als einen entschiedenen Feind alles Revolutionären, das „beim geringsten Mißbehagen sogleich den Einsturz des Bestehenden fordert“, bekannt hatte, wandte sich der letzteren zu. Er übernahm sogar die Führerschaft der städtischen Partei und bekämpfte somit das eigene Princip. Er gelangte dort rasch zu Ehren. Erst Mitglied des Großen Rathes, wurde er 1837 dessen Präsident. Als aber die radicale Strömung wieder die Oberhand gewann und er bei der Bewerbung um das Bürgermeisteramt dem radicalen Gegenkandidaten unterlag, zog er sich vom politischen Leben ganz zurück und suchte die Kränkung seines Ehrgeizes durch Erfolge in der Wissenschaft vergessen zu machen. Er war indessen Professor des Staatsrechtes an der neugegründeten Universität Zürich geworden.

Wenn wir zunächst sein politisches Wirken weiter verfolgen, so begegnen wir hier der eigenthümlichen Thatsache, daß, während sonst unsere Politiker mit dem zunehmenden Alter aus der liberalen Strömung vielfach in ein mehr konservatives Fahrwasser hinüberlenken, bei Bluntschli der Proceß sich in umgekehrter Weise vollzog. Diese Umkehr nach links trat aber erst ein mit seiner Uebersiedelung nach Deutschland. Die Verhältnisse in Zürich erwiesen sich für seinen Thatendrang aussichtslos, für seinen Charakter empfindlich. So kam ihm seine von ihm selbst angeregte Berufung an die Universität München als Lehrer des Staats- und Völkerrechts ganz erwünscht. Mit seinen „Stimmen eines Schweizers über die Bundesreform“ rief er seinem angestammten Vaterlande gleichsam noch ein politisches Abschiedswort zu und verließ es (1848) dann aus immer.

In Baiern waren namentlich seine freundschaftlichen Beziehungen zu den liberalen Kammermitgliedern Breten und Bühlen für seine politische Stellungnahme entscheidend. Nur zu bald aber wurde er der Hemmungen inne, die sich dort vielseitig einer freieren Entfaltung der Kräfte entgegenstellten. Es waren nicht blos die Anfeindungen des Ultramontanismus, mit denen er, mehr auf dem wissenschaftlichen, als politischen Gebiete, zu kämpfen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_815.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)