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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Die neronische Verfolgung des Jahres 64 war auf Rom beschränkt geblieben. Wohl waren die Christen unter den nächstfolgenden Kaisern einzelnen Quälereien ausgesetzt gewesen, aber erst unter Trajan (98 bis 117) nahm die Verfolgung einen bedrohlichen Charakter an. Der im Jahre 111 nach Bithynien entsandte Statthalter Plinius fand dort, wie er sich in einem Briefe ausdrückt, daß die Seuche des christlichen Aberglaubens sich nicht nur über die Städte, sondern auch über das Land und die Dörfer verbreitet, sodaß die Tempel leer standen und der Handel mit Opferthieren aufgehört hatte. Er hielt sich für berufen, der Seuche zu steuern. Dabei aber kam er in Conflict mit seinem Rechtsbewußtstein und schrieb an den Kaiser um Instruction. Die kaiserliche Antwort lautete, man solle die Christen nicht aufsuchen, anonyme Anzeigen auch nicht berücksichtigen, aber förmliche Anklagen untersuchen und die, welche des verbotenen Glaubens schuldig befunden würden und von demselben nicht zurücktreten wollten, bestrafen. Damit war der Rechtsboden für das Einschreiten des Proconsuls gegeben; die Verfolgung hatte eine legale Form erhalten.

Die neutestamentlichen Schriften, in denen sich das Bild dieser Zeit wiederspiegelt, sind der erste Petrus-Brief und die Apostelgeschichte. Die erste dieser Schriften ist von Rom, dem Sitze des Judenchristenthums, an die bedrängten kleinasiatischen Gemeinden, in denen noch vor etwa vierzig Jahren der Kampf der Parteien am heftigsten brannte, gerichtet. Aber dieses Schreiben gehört zu den versöhnlichsten des Neuen Testaments. Es ermahnt die Christen, im Leiden festzustehen, das Böse mit Gutem zu vergelten und dahin zu trachten, daß Jeder nur um der Gerechtigkeit, Keiner um der Bosheit willen leide.

Der Verfasser dieses Briefes hat aus seinem Herzen jeden Groll gegen den Apostel Paulus ausgetilgt. Er bedient sich sogar der Worte und der Gedanken des Paulus, was dem Briefe jedenfalls um so sicherer einen Platz im Herzen der kleinasiatischen Gemeinden verschaffte. Daß der Brief trotz der darin enthaltenen paulinischen Gedanken, den Namen des Petrus trägt, ist ebenfalls ein Beweis dafür, daß die Christen über die Zeit, in der die Einen riefen: „ich bin petrisch“, die Anderen: „ich bin paulisch“, hinaus waren.

Einen ähnlichen Charakter hat die Apostelgeschichte. Auch sie ist unter Trajan verfaßt worden und recht eigentlich das classische Denkmal der zwischen den Petrinern und Paulinern vollzogenen Einigung. Mit peinlicher Sorgfalt sind aus der Lebensgeschichte des Paulus alle herben, gegen das Gesetzeschristenthum gerichteten Züge ausgetilgt. Jener tiefgehende Conflict, den Paulus mit Petrus in Antiochien hatte, als Petrus zuerst mit den Heidenchristen aß, dann aber, sobald Vertreter der Jerusalemgemeinde dazu kamen, plötzlich den Verkehr mit den Heidenchristen abbrach, ist vollständig übergangen. Dafür soll Paulus, im directen Gegensatze gegen seine im Galaterbriefe behauptete Position, sich bei einem Congresse in Jerusalem dazu verstanden haben, seine Gemeinden auf die Innehaltung der sogenannten noachischen Gebote zu verpflichten. Petrus erscheint in der Apostelgeschichte auf einmal als ein durchaus freisinniger Pauliner. Er geht nach einer Vision in das Haus des heidnischen Hauptmanns, um dessen ganze Familie zu taufen. Die Institution der Taufe hat die der Beschneidung völlig verdrängt. Die Taufe ist dafür aber nun ebenso nothwendig geworden, wie früher die Beschneidung. Petrus verkündigt in Jerusalem die paulinische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben, und da doch einmal in der Tradition fortlebte, daß die Judenschriften eine Unterstützung, die Paulus nach Jerusalem gebracht hatte, zurückgewiesen, so erfand die Apostelgeschichte einen eigenen Magier Simon, dem nun anstatt dem Paulus das Wort entgegengeschleudert wird: „Daß du verdammt seiest mit deinem Gelde!“ Dabei wägt der Verfasser der Apostelgeschichte sorgfältig ab, daß keiner der beiden Apostel in der Bewunderung der Leser zu kurz komme. Jeder Wunderthat des Einen wird eine analoge Wunderthat des Andern zur Seite gesetzt.

So schien der Streit zwischen Paulinern und Petrinern vorläufig beigelegt. Wer hatte denn aber in diesem Streite gesiegt, Paulus oder Petrus? Der ideale Sieg war entschieden auf Seiten der Paulus-Partei; denn sie hatte es fertig gebracht, daß die Gegner ihre particularitischen Gesetzesansprüche hatten fallen lassen müssen. Den Löwenantheil des Sieges trug indessen die Petrus-Partei davon. Ueber den Verlust der Beschneidung konnte man sich trösten, nachdem in der Taufe, dem Zeichen der Aufnahme in den göttlichen Bund, ein Ersatz für dieselbe geschaffen war. Jetzt hatte ja ihr Führer doppelten Ruhm: einmal den Ruhm des Apostelfürsten, und dann noch denjenigen, zugleich auch als der Vertreter der universellen Ideen des Paulus zu erscheinen. Rom hatte seinen ersten entscheidenden Sieg errungen, indem es sich zum Vertreter des kirchlichen Einheitsgedankens aufwarf. Es sollte später Gelegenheit zu einem zweiten noch größeren Siege erhalten.

Wie einst in Kleinasien der Streit um die Verbindlichkeit der Beschneidung begonnen hatte, der erst vor Kurzem durch die allgemeine Einführung der Taufe seine Erledigung gefunden hatte, so entstand jetzt ebendaselbst der Streit um die Befindlichkeit des zweiten mosaischen Sacraments, des Passahmahls. In Kleinasien befand sich eine christliche Partei, welche, streng an der jüdischen Passahfeier festhaltend, das österliche Fasten am 14. Nisan abbrach, um an diesem Tage das gesetzliche Passah zu genießen. In der abendländischen Kirche hatte man sich längst von dieser strengen Praxis losgelöst. Man kümmerte sich nicht um den 14. Nisan, sondern richtete sich, wie es noch heute kirchlicher Gebrauch ist, lediglich nach dem Sonntage, dem der Erinnerung an die Auferstehung Jesu geweihten Tage, und weihte danach den Freitag ein- für allemal als Erinnerungstag an den Tod Jesu. Die Differenz kam zuerst in Rom bei Gelegenheit eines Besuches des Bischofs Polycarp von Smyrna bei dem römischen Bischofe Anicet im Jahre 180 zur Sprache, ohne daß die beiden Bischöfe sich verständigt hätten Zehn Jahre später brach der Streit in Laodicaea jedoch von Neuem aus. Dabei zeigte sich, daß in Kleinasien selbst sowohl die freiere römische als auch die gesetzliche Praxis vertreten war. Der Kampf nahm immer größere Dimensionen an, sodaß er bald die ganze Kirche des Abend- und Morgenlandes erschütterte. Die strengere Partei der Kleinasiaten hielt entschieden daran fest, daß das Passah nur am 14. Nisan, wie es jüdischer Ritus war, gefeiert werden dürfe. Sie berief sich dafür auf keine geringere Autorität, als auf die des Apostels Johannes, der ja in Kleinasien seine Apokalypse geschrieben hatte, und auf die gesammte, auch in den synoptischen Evangelien niedergelegte Ueberlieferung, welche dahin lautete, daß Jesus ebenfalls am 14. Nisan das gesetzliche Passah gefeiert habe und Tags darauf gekreuzigt sei. Hier war von Neuem das Einheitsinteresse der Kirche gefährdet, besonders als nun der römische Bischof Victor den Schritt that, daß er die Gemeinden von Kleinasien von der Kirchengemeinschaft abzuscheiden und als Ketzer zu brandmarken versuchte.

Wer sollte hier nachgeben? Rom hat niemals nachgegeben. Schon war ihm ja auch ein Beistand geworden mit dessen Hülfe ihm der Sieg nicht fehlen konnte, nämlich in dem vierten unserer neutestamentlichen Evangelien. Dieses Evangelium macht den eigenthümlichen Versuch, die Autorität des geschichtlichen Johannes und der ganzen altkirchlicher Ueberlieferung durch die Neubildung einer Evangelienschrift zu bekämpfen. Dieses vierte Evangelium, das auch wir, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche folgend, immerhin das Johanneische Evangelium nennen mögen, stellt sich die Aufgabe, für die römische Praxis in der Behandlung der Passahfrage einen bestimmten Beleg beizubringen. Christus, so argumentirt diese Schrift, ist das wahre Passahlamm. Jene seltsame und unnatürliche Erzählung, daß aus der mit der Lanze der Kriegsknechte durchbohrten Seite des gekreuzigten Jesus Blut und Wasser geflossen sei, hat nur den Zweck, auf Grund eines alttestamentlichen Citats den Beweis führen zu können, daß Jesus das Passahlamm gewesen. Ist diese Voraussetzung richtig, so mußte Jesus am 14. Nisan am Tage, an dem das Passahlamm geschlachtet wurde, getödtet worden sein. War er selbst das Passahlamm, so konnte er das Passah nicht noch gegessen haben. Haben die Christen aber ein anderes Passahlamm, als die Juden, so sind sie an die gesetzlichen Bestimmungen über das Passahfest nicht gebunden. Diese künstliche Verschiebung des Todestages Jesu, die der Tradition so durchaus entgegen war, konnte nur in einer Schrift, welche, wie das vierte Evangelium, so durchaus von einer großen und neuen Gesammtanschauung des Christenthums getragen war, Aussicht aus Erfolg haben. Die ja auch schon von Paulus flüchtig berührte Idee, daß Christus das wahre Passahlamm sei, erscheint hier im Zusammenhange eines großartigen, in sich einheitlichen theologischen Systems.

Das vierte Evangelium hat eine zu bedeutsame Stelle in der kirchlichen Entwickelung eingenommen, als daß wir nicht der Theologie dieses Evangeliums unser Interesse zuwenden sollten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_851.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)