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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Der Leser erinnert sich wohl der Scene im „Faust“, in der der Philosoph nach dem Spaziergange am ersten Osterfeiertage in sein Studirzimmer zurückgekehrt ist. Beim Scheine der Lampe erwacht in ihm die alte ungestüme Sehnsucht nach den Urquellen alles Lebens und nach der Erkenntniß der letzten Gründe alles Seins. Er greift nach dem Neuen Testament, um hier Offenbarung, Aufschluß über die Räthsel des Daseins zu finden. Als er das Buch im Urtexte aufschlägt, trifft sein Blick auf den ersten Vers unseres Evangeliums: „Im Anfang war das Wort“. Allein das „Wort“ erscheint ihm zu wesenlos, als daß es als Anfangsprincip der Welt dienen könnte. Er übersetzt deshalb: „Im Anfang war der Sinn“, darauf: „Im Anfang war die Kraft“, und endlich, als er beide Uebersetzungen verworfen hat: „Im Anfang war die That“.

Was hat es mit dieser Stelle für eine Bewandtniß, daß sie einen Faust so tief zu bewegen und doch seine Gelehrsamkeit in Verwirrung zu bringen vermochte? Die Beantwortung dieser Frage wird uns zugleich in das Verständniß des vierten Evangeliums überhaupt einführen.

Wir sehen, daß das Evangelium eingeleitet wird durch einen Prolog, der tief unser modernes Denken in ein mystisches Dunkel gehüllt ist. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Um das zu verstehen müssen wir für einen Augenblick in die Geschichte der griechischen Philosophie zurückgehen. Während bekanntlich die Volksphantasie in Hellas ein ganzes Heer Götter geschaffen, hatte sich, im Unterschied zu den volkstümlichen, sinnlich religiösen Vorstellungen unter den Philosophen die Lehre von einer Einheit des göttlichen Wesens herausgebildet. Aber diesem göttlichen Wesen, dem allein wahres Sein zukam, das nach Plato schöner als das Schöne, besser als das Gute, unveränderlich, allwissend, allgütig war, stand die sinnliche Welt der Erscheinung, die Materie in ihren unendlich vielen Formen, als Gegensatz gegenüber. Es galt nun, zwischen den beiden, dem reinen Ansichsein und dem materiellen Dasein, eine Vermittelung zu finden. Die Welt ist ein Kosmos, ein geordnetes, nach Gesetzen sich bewegendes Ganze. Diese Gesetze sind durch die Vernunft erkennbar. Also scheint die Vernunft das zwischen der materiellen Welt und dem reinen göttlichen Wesen vermittelnde Princip zu sein. Dieses vernünftige Princip der Welt nannten nun die Philosophen bald Geist, bald Vernunft, bald bezeichneten sie es mir dem Begriff, dessen Uebersetzung dem Faust so viel Schwierigkeiten macht, mit dem Begriff des „Logos“, der im ursprünglichsten Sinne jedenfalls ganz richtig mit „Wort“ übersetzt wird, aber, sofern das Wort oben der Ausdruck des vernünftigen Gedankens ist, überhaupt die in die Erscheinung tretende und sich bethätigende Vernunft bezeichnet. So gebraucht schon Heraklit den Begriff „Logos“ als Ausdruck für die gesetzmäßige Bewegung der Welt. Bei den Stoikern findet sich derselbe Begriff neben dem des Geistes, um das der Welt innewohnende ordnende Princip zu bezeichnen.

Als die Juden sich mehr und mehr über die engen Grenzen ihres Landes ausbreiteten, kamen sie notwendiger Weise auch mit der Gedankenwelt der hellenischen Philosophie in Berührung. Dies geschah besonders in Alexandrien, einem Hauptsitz der außerpalästinensischen Judenschaft. Dort bildete sich eine berühmte Schule, welche die griechische Weisheit mit der hebräischen Weltanschauung verschmolz. Eine ganz außerordentliche Rolle spielte hierbei jener Begriff des „Logos“. Da in der griechischen Uebersetzung des Alten Testaments – das hebräische Reden und Sprechen Gottes als „Logos“ Gottes wiedergegeben war, so war ja dieser Begriff vor allem geeignet, als Einigungspunkt für die griechische und jüdische Weltanschauung zu dienen.

Besonders war es der vornehme alexandrinische Jude Philo, der diese Logoslehre weiterbildete. Bei Philo ist der Logos ausdrücklich das vermittelnde Princip zwischen Gott und Welt. Er ist die Kraft die alle Kräfte in sich faßt, der in Gott ruhende Weltgedanke, das Urbild der Welt, der Stellvertreter Gottes, der Dolmetscher, welcher ihr seinen Willen auslegt, daneben aber auch wieder der Vertreter der Wett in ihrem Verhältniß zur Gottheit, der Hohepriester, der Fürbitte für sie einlegt.

Wie Philo die jüdische Religion und die griechische Philosophie zur alexandrinischen Religionsphilosophie zusammenschloß, so verband nun das vierte Evangelium hinwiederum die alexandrinische Religionsphilosophie mit dem Christentum. Es übertrug die Prädicate, welche die Philosophie dem Logos zuteilte, auf Christus, den es als den fleischgewordenen Logos auffaßt. Ein so kühnes Unternehmen konnte natürlich nur auf Erfolg rechnen, wenn ihm die ganze Strömung der Zeit, in der dasselbe erschien, entgegenkam und wenn der Logosbegriff überhaupt schon in die christliche Literatur eingedrungen war. Beides war zur Zeit, als das vierte Evangelium erschien, der Fall.

Seit Anfang des zweiten Jahrhunderts kämpfte die Kirche gegen eine Richtung, welche die Religion in philosophische Speculation aufgehen zu lassen drohte, gegen den sogenannten Gnosticismus. Dieser Richtung bricht nun das vierte Evangelium die gefährlichste Spitze ab, indem es die Gnosis, die philosophische, speculative Erkenntniß, in den Dienst der Kirche nimmt. In den paulinisch gesinnten Kreise Kleinasiens war ja überhaupt die Religionsphilosophie nichts Fremdes mehr. Paulus selbst hatte sich als von platonischen Gebaute beeinflußt gezeigt, und schon der Hebräerbrief wendet die Prädicate des Logos auf Christus an, indem er ihn den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit und den Abdruck des göttlichen Wesens nennt, der alle Dinge mit seinem kräftigen. Worte trage.

Besonders die Briefe an die Colosser und Ephesier, in denen wir wahrscheinlich spätere Ueberarbeitungen eines verloren gegangene paulinischen Briefes vor uns haben, und die dem Johannes zugeschriebenen Briefe stehen mitten in der religionsphilosophischen Bewegung ihrer Zeit. Und doch ist das vierte Evangelium die erste und einzige unserer canonischen Schriften, welche systematisch und consequent die Logosidee für das Christenthum verwendet.

Die Religion wird in dieser Schrift vorwiegend zu einem intellectuellen Proceß. Als die Hauptsache, auf die Alles ankommt, erscheint die rechte Gotteserkenntniß: „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, und den du gesandt hast, den Christ, erkennen.“ Die Mission des fleischgewordenen Logos besteht eben darin, ganz wie bei den Gnostikern, das geheimste Wesen der Gottheit zu enthüllen, und dadurch wird auch das johanneische Christus-Bild bestimmt. Dieser Jesus des vierten Evangeliums hat kein menschliches, sondern ein absolutes, göttliches Selbstbewußtsein. Er erklärt, er und der Vater seien eins; er nennt sich selbst die Wahrheit, das Leben, das Licht der Welt und behauptet von sich, daß ihm alle Dinge vom Vater übergeben seien, daß er vom Himmel gekommen sei, zum Himmel fahre und im Himmel sei. Faßt man diese Worte als Selbstaussagen. eines Menschen, so läßt sich nichts Triftiges gegen die von David Strauß gemachte Bemerkung einwenden, daß ein Mensch, er möge gewesen sein, wer er wolle, solche Rede bei gesundem Kopf und Herzen nicht könne geführt haben.

Aber das vierte Evangelium giebt eben keine Biographie des geschichtliche Jesus, sondern ein bestimmtes, in Form der Erzählung niedergelegtes theologisches System. Es führt aus, wie sich das Christenthum vom Standpunkt der Logosidee betrachtet ausnimmt, und ist nichts als eine Umgestaltung der evangelischen Geschichte im Geiste der alexandrinischen Religionsphilosophie.

Dieses Evangelium war ganz dazu angelegt, einer Kirche, die schon anfing sich an dem Gedanken der einen Heerde unter einem römischen Hirten zu berauschen, die wirksamste Handhabe für die Realisirung ihres Ideals zu bieten. Es schnitt dem noch vorhandenen Rest des Judaismus die letzte Berechtigung ab, indem es die letzte Burg desselben die Passahfeier, niederwarf und dafür die Juden als Kinder des Teufels, als die personificirten Mächte der Finsterniß hinstellte. Es machte mit einem Male den Discussionen, ob Jesus der Sohn Joseph’s oder der Sohn der jungfräulichen Maria sei, ein Ende, indem es ihn als den vom Himmel herniedergestiegenen, fleischgewordenen Logos Gottes auffaßte. Es überwand den damals gefährlichsten Feind der Kirche, einen die historischen Voraussetzungen des Christentums zu philosophischen Spekulationen verflüchtigenden Gnosticismus, indem es die Gnosis selber zu einem wesentlichen Factor des Christentums machte.

So hatte Rom seinen zweiten Sieg errungen. Doch um welche Preis waren diese beiden Siege erkauft worden!

Die Kirche hatte, um ihre Einheit festzuhalten, die Erinnerung an die zwischen den ältesten Aposteln und Paulus bestehenden Differenzen auslöschen müssen. Dies war aber nur möglich auf

Kosten der geschichtlichen Wahrheit. Man hatte dem Paulus, dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 852. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_852.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)