Seite:Die Gartenlaube (1882) 057.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 4.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Wie war es eigentlich gekommen, daß Hilda nie an eine Aenderung der bestehenden Verhältnisse gedacht, selbst damals nicht, als sie den Ausschlag in den zögernden Entschlüssen ihres Bruders gab? Seit Jahren hatte sie immer wieder, Franz gegenüber, ihrem Mitleide mit der Einsamkeit Ausdruck gegeben, in welcher er durch’s Leben ging. Was für sie selbst nicht in Betracht kam, schien ihr in ihrer hingebenden schwesterlichen Liebe und Sorge eine Entbehrung für den frühverwittweten Bruder. Er war noch zu jung, um allein zu bleiben; sein Gemüth bedurfte der sonnigen Liebe an der Seite eines anmuthigen Weibes. Aber ihr fürsorgliches Zureden fand immer wieder einen ablehnenden Widerstand in seiner tiefen Trauer um die dahingegangene geliebte Gattin. Er hing an der Todten mit einer Liebe, die weit über das Grab hinaus ging – ein Gefühl, wie es sich bei so ernsten, abgeschlossen lebenden Männern häufiger findet, als bei den von dem leichten Wellenspiel des Gesellschaftsverkehrs stetig geschaukelten Kindern der Welt.

Diese Abneigung des Gutsherrn gegen einen zweiten Ehebund wollte lange Zeit hindurch selbst materiellen Nöthigungen nicht weichen. Der auf allen Gebieten, namentlich aber im Bereiche der Technik, rastlos fortschreitende, moderne Geist, der rast- und ruhelose Sturmschritt unserer Tage, läßt rücksichtslos diejenigen hinter sich zurück, welche mit ihm nicht Schritt halten, wohl aber am schwersten ringt der Besitzer von Grund und Boden um den Erfolg, wenn er aus mangelnder Einsicht in die Forderungen der Zeit sich selbst die Hände bindet. Schon anfänglich mußte Franz alle Kräfte anspannen, als er das Erbe seines jüngeren Bruders aus der Masse zu lösen hatte; als aber dann Ereignisse eintraten, welche die Geschwister moralisch zwangen, für eben diesen Bruder einzustehen und die Lücke zu decken, die sein unverantwortlicher Leichtsinn in das eigene Ehrenkleid wie in den fleckenlos bewahrten Ruf seiner Familie gerissen, da wollten alle Anstrengungen nicht mehr genügen. Das war nun schon mehrere Jahre her – endlich aber ließen sich die zwingenden praktischen Erwägungen, welche eine zweite Heirath für den Herrn des bedrängten Gutes Waltershofen nothwendig erscheinen ließen, nicht mehr zurückdrängen, und daß die Heirath schließlich doch nicht den Charakter einer finanziellen Speculation trug, erklärte sich nur aus dem Widerwillen des stolz denkenden Mannes gegen eine solche und aus dem glücklichen Zufalle, der ihm im rechten Momente ein Wesen wie Albertine begegnen ließ, an dem sein für Frauenreize längst unempfindlich scheinender Blick sich wieder entzünden konnte.

Niemand war nach jener ersten Rückkehr aus dem Bade ein eifrigerer Fürsprecher der zweiten Heirath Franzens gewesen, als Hilda, aber an eine Aenderung ihrer Verhältnisse hatte sie dabei gar nicht gedacht. Ihre Gewalt in Haus und Hof schien so fest begründet, daß ihr die Abtretung derselben gar nicht in den Sinn kam.

Und jetzt stand sie vor dem Factum, das sich so plötzlich und ganz sachte vollzogen hatte: diese Gewalt über Haus und Hof war ihr abgenommen worden. Einen Moment lang hatte sich Alles in ihr dagegen aufgebäumt, doch nur Secunden waren verstrichen von dem Schrecke der Ueberraschung bis zum Verständnisse ihrer Lage, bis zur Ergebung in dieselbe. Hilda dachte zu klar, um die logische Entwickelung der Dinge nicht sofort zu würdigen. Selbst der Verdruß trübte ihren Gerechtigkeitssinn nicht. Wie hätte die junge Frau denn auch anders handeln sollen? Aber diese gerechten Erwägungen milderten kaum die schmerzlichen Empfindungen, die keinem Menschenherzen, wenn es sich loslösen soll von der Gewohnheit eines halben Lebens, erspart bleiben, und in Hilda’s Seele sammelten sich diese schmerzlichen Empfindungen in dem Bewußtsein:

„Ich bin abgesetzt.“

Es war Hilda, als verlasse man sie. Am meisten aber schmerzte es sie, daß auch Mimi sich frohgemuth in die neue Ordnung der Dinge fand, ohne das geringste Zeichen von Mitgefühl für das, was in der Seele der Verletzten vorging. Das war eine harte Enttäuschung.

Wie ihr eigenstes Eigenthum, wie ihr Kind hatte Hilda sie betrachtet. So innig hatte sie sich mit ihr verbunden gefühlt, daß ihr in der Entwickelung der künftigen Familienbeziehungen nur eine einzige Schwierigkeit vorgeschwebt, nämlich die, welche ihr als Vermittlerin zwischen dem eifersüchtigen Mädchen, das alle Liebe allein für sich haben wollte, und den gerechten Anforderungen, die an dasselbe herantreten mußten, zufiel. Was für eine Scene war das noch jüngst, kurz vor der Ankunft der Stiefmutter, gewesen! Und jetzt – –?

Wie im Handumdrehen hatte sich die Wendung in Mimi’s Gemüth vollzogen – und nun war es da und ließ sich nicht mehr bannen, das sentimentale Empfinden für das sich Hilda in lebenskräftiger Zuversicht immer unzugänglich geglaubt hatte.

Alle hatten ihre eigenen Interessen; Alle fanden sich auch in denselben zusammen; sie nur blieb ausgeschlossen aus dem Kreise. Wie einem Kinde war ihr zumuthe, das abseits steht und keinen Platz mehr findet in dem Ringe, zu dem sich die Andern im Spiele die Hand gereicht, wie einem Kinde, das nun zusehen muß, wie sich die Andern heiter drehen. Ihr fehlte die Hand, die sie fassen konnte, das Auge, das ihren Blick verstand, die Seele, bei der sie Theilnahme zu finden sicher war. Sie fühlte sich allein.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_057.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)