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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Die Reform des modernen Theaterbaues.

Von Karl von Lützow.


Ein finsterer Dämon waltet seit Wochen über den freundlichen, glanzerfüllten Räumen unserer Theater, den Stätten der Erholung und des edelsten Genusses für viele Tausende, denen im Kampfe des Lebens jede sonstige Gelegenheit verloren gegangen, sich der Segnungen der Kunst zu erfreuen. Soll auch dieser letzte Zufluchtsort ihnen verschlossen werden oder sollen sie nur von banger Furcht begleitet ihn betreten dürfen? Das ist eine Frage, die wohl schon früher sich da und dort erhoben hat, nun aber – nach der entsetzlichen Katastrophe des Wiener Ringtheaters – allseitig laut hervortritt und zu einer ernsten Betrachtung der Zustände unseres modernen Theaterbaues herausfordert.

Dieser nämlich, der Bau und seine Einrichtung, nicht die menschliche Fahrlässigkeit, Gewissenlosigkeit und Kopflosigkeit trägt, meines Erachtens, die Hauptschuld an den unaufhörlichen und mit steigender Verderblichkeit auftretenden Theaterbränden. Ich will dies in Kürze darzulegen versuchen und hieran einige Gedanken über die Heilung des Uebels knüpfen.

Von den beiden Theilen, aus denen jedes Theater besteht, der Bühne und dem Zuschauerraum, hat erstere, namentlich im Laufe der letzten Jahrzehnte, eine früher ungeahnte Entwickelung durchgemacht. Die Ausstattung der Bühne ist immer naturalistisch reicher, das Maschinenwesen immer complicirter, der Beleuchtungsapparat immer feuergefährlicher geworden. Dem gegenüber blieb der Zuschauerraum im Wesentlichen der alte; von einzelnen Ausnahmen abgesehen, hat er, insbesondere was die schnelle Circulationsfähigkeit des Publicums betrifft, keine nennenswerthen Veränderungen erfahren. Oder mit anderen Worten: tausende, ja hunderttausende von Menschen werden täglich mit einem der feuergefährlichsten Körper in unmittelbare Verbindung gebracht, ohne daß für ihre Rettung hinlänglich gesorgt wäre.

Das in jüngster Zeit viel citirte Buch von August Fölsch über Theaterbrände (1878) führt den Nachweis, daß die bei Weitem größere Mehrzahl dieser Unglücksfälle im Bühnenraum entstanden sind. Auch im Ringtheater war dies bekanntlich der Fall. Und wie könnte es auch anders sein? Hier ist eine unglaubliche Menge von Holzwerk, von Balken, Brettern und Latten aufgehäuft, welche durch den langjährigen Gebrauch in erwärmter Luft ausgedörrt sind, sodaß sie im Augenblick Feuer fangen. Dazu kommt das riesige Quantum von grobfaseriger Leinwand, von mit Firniß getränktem Papier und anderen rasch entzündbaren Stoffen, endlich der häufige Gebrauch von brennbaren Flüssigkeiten und gefährlichen Apparaten, wie sie die moderne Bühnenkunst, namentlich Oper und Ballet, immer häufiger und kühner anzuwenden lieben, sodaß nicht selten eine Anzahl von Löschmännern hinter den Coulissen fortwährend bereit gehalten werden muß, um die durch Feuerregen etc. entstehenden Entzündungen der Bühneneinrichtung zu löschen.

Man müßte die menschliche Natur und den Gang der modernen Kunstentwickelung wenig kennen, wollte man sich der Hoffnung hingeben, daß diesem gefährlichen Spiel mit dem verderbenbringenden Element etwa durch die Theaterkritik oder durch polizeiliche Vorschriften Einhalt zu thun wäre. Unsere gesammte Kunst mit ihren gewaltigen coloristischen und naturalistischen Evolutionen drängt auch im Bühnenwesen vor Allem auf Beschäftigung der Sinne, Illusion und Effect um jeden Preis hin. Es wäre leichter, unsere Kunstfreunde an Wandgemälde im Stile Giotto’s oder Tafelbilder in Stephan Lochner’s Weise zu gewöhnen, als die ständigen Besucher der heutigen Theater an die schlichte Bühneneinrichtung der Goethe’schen Zeit. Entschlösse man sich selbst der Polizei die weitestgehende Obsorge über die feuergefährliche Hantirung hinter den Coulissen einzuräumen, so wäre auch dadurch die Gefahr nicht beseitigt.

„Wenn also das Feuer nicht zu beseitigen ist, so mache man die auf der Bühne verwendeten Stoffe weniger leicht entzündbar!“ So lautet eine sehr natürliche Folgerung, welcher die moderne Naturwissenschaft auch bereits in dankenswerthester Weise zu genügen beflissen war. Wir waren in Wien unlängst Zeugen von Versuchen, welche mit imprägnirten Stoffen (System Patera und andern) angestellt wurden und die beruhigendsten Resultate ergaben. Auch an anderen Orten sind solche Proben wiederholt gemacht, an einigen Theatern sogar die neuen Stoffe bereits eingeführt. Beachtenswerth erscheint auch nach den vorliegenden fachkundigen Berichten eine unter verschiedenen Namen („Extincteur“, „Mata Fungos“ etc.) auftretende Erfindung, mittelst deren ein bedeutender Brand plötzlich gelöscht werden kann (System Delattre).

Allein bei diesen sämmtlichen höchst dankenswerthen Vorschlägen und Erfindungen, sowie bei vielen anderen Propositionen, durch welche man den Bühnenbränden wirksam entgegenzuarbeiten oder ihre verheerende Wirkung auf den Bühnenraum zu beschränken hofft (Draht- und Blech-Courtinen, Bühnenregen etc.), bei alledem handelt es sich um die wirkliche Gefahr. Leider wissen wir aber Alle, daß es keineswegs diese allein, sondern ebenso sehr die imäginäre Gefahr ist, welche bei der ganzen Angelegenheit in Betracht kommt. Es braucht gar nicht zu brennen; ein Frevler oder ein Irrsinniger braucht nur „Feuer“ zu schreien – und unsägliches Unglück bricht über die Masse herein. Die Schreckensscenen in der Warschauer Kreuzkirche bieten dafür den neuesten traurigen Beweis. Gebe man sich doch nicht der trügerischen Hoffnung hin, daß mit der Einführung der Flammenschutzmittel in unser Decorationswesen, mit dem Ersatz des Holzes durch Eisen bei der Construction der Schnürböden, durch die höchste Vervollkommnung des Feuerlöschwesens u. dergl. m. die Panik des Publicums auch nur im Geringsten sich vermindern werde! Diese Beruhigungsmittel mögen und werden dazu beitragen, daß die Leute sich wieder daran gewöhnen, ohne Furcht vor dem Verbrennen in’s Theater zu gehen. Ja, ich bin sogar der Meinung, daß der göttliche Leichtsinn, dieser ewige Genosse des Menschen, auch ohne Palliativmittel gegen den Flammentod allmählich das nämliche erwünschte Resultat herbeiführen werde. Ruhig hinausgehen aber, wenn es brennt, oder wenn man glaubt, es brenne, werden die Menschen nie. Ein entwürdigendes, menschenmordendes „Sauve qui peut“ wird immer die Parole solcher Augenblicke sein.

Deshalb meine ich: unsere Heilmethode muß dort eingreifen, wo in den Augenblicken der Verwirrung die Gefahr sich zusammendrängt, im Circulationsraum des Publicums. Oder mit andern Worten: im Bau der Theater, in der Einrichtung des Zuschauerraumes vor Allem ist die wirkungsvollste Abhülfe für die geschilderten Gefahren zu suchen; die Aufgabe, die zu lösen ist, ist in erster Linie eine architektonische.

Es sei mir zur Erläuterung dieses Gedankens ein ganz kurzer geschichtlicher Rückblick gestattet. Wie grundverschieden das Theater des classischen Alterthums von dem unserigen gewesen sein mag, so hat dasselbe doch, wie die Baukunst der Alten überhaupt, gewisse Grundzüge der Anlage festgestellt, welche sich als Errungenschaften von unveräußerlichem Werth für alle Zeiten, selbstverständlich für die unserige so gut wie für jede andere, erweisen. Trennung von Bühne und Zuschauerraum war ein Hauptzug des Theaterbaues der Griechen. Die Römer hoben diese Trennung auf – milderten sie wenigstens – und schufen aus beiden Bestandtheilen ein geschlossenes Ganzes. Sie verwandelten zugleich den Zuschauerraum, der bei den Griechen an eine natürliche Bodenerhebung sich anzulehnen pflegte, in einen vollkommen freistehenden, mit der Bühne zusammenhängenden Bau.

Auflösung des Zuschauerraumes in ein System von Treppen und Gängen war der Grundgedanke, den sie dabei verwirklichten. „Das Motiv, welches sie zu Grunde legten, war ein sehr verständiges. Es fiel ihnen nicht ein, einer großen Menschenmasse zuzumuthen, daß sie sich durch zwei, drei Thüren mit einer Breite von zwanzig Fuß im Ganzen geduldig entferne, wenn das Schauspiel zu Ende war, oder daß sie gar, wenn Tumult entstand, nicht zu drängen anfange.“ Mit diesen Bemerkungen Jacob Burckhardt’s stimmt ein Wort überein, welches ich einmal aus Gottfried Semper’s Munde hörte: „Der Theaterbau soll in demjenigen Theil, welcher den Zuschauerraum umschließt, im Aeußeren sich als ein aus dem Boden hervorgezogener Fundamentbau darstellen.“ Hierin ist angedeutet, daß der große moderne Meister das römische Motiv als übertragungsfähig auf den modernen Theaterbau betrachtete. Ohne ein Zurückgreifen auf das System der Römer, das auf möglichste Decentralisation (Auseinanderhaltung) der Treppenanlagen abzielte, ist in der That eine Lösung der Aufgabe ebensowenig zu denken, wie ohne Wiederaufnahme der Forderung der Griechen, welche die Trennung von Bühne und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_066.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)