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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Sie war, als er sich zum Fortgehen erhob, gleichfalls aufgestanden und stellte das Frühstücksgeschirr in einander. Bei seinen Worten fuhr sie heftig zusammen, wurde leichenblaß und setzte klirrend die Tassen nieder.

„Nun, erschrick nur nicht, liebe Frau!“ sagte er begütigend und trat wieder zu ihr. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog ihren Kopf liebevoll an sich. „Aber das mußt Du doch einsehen: immer verborgen kann es nicht bleiben, und wenn Käthe zum Beispiel heirathet, sei es, wer es wolle, so wird sie die Wahrheit erfahren – weder vor dem Standesamt noch vor dem Altar läßt sich das verbergen.“

Sie seufzte und sah ihn mit schmerzlichem Blicke an.

„Ja, einmal muß es geschehen – ich weiß das. Aber laß’ es so spät wie möglich sein, liebster Mann!“ bat sie dringend und leidenschaftlich.

„Es war eine große Schwachheit von mir, daß ich darin Deinen Bitten nachgegeben habe, Constanze, nun es aber einmal geschehen ist, bangt mir selbst vor der Nothwendigkeit einer Enthüllung,“ entgegnete er.

Er strich mit der Hand über ihr glänzend schwarzes Haar, und, sich zu ihr herabbeugend, drückte er zärtlich einen Kuß auf ihre Lippen.

Sie war noch immer eine schöne Erscheinung. Dunkle, heiße Augen blickten zu den seinigen auf, und eine schlanke, biegsame Figur schmiegte sich an seine breite, hohe Gestalt; in der Art, wie er leidenschaftlich zu ihr herniedersah, sprach es sich deutlich aus, wie sehr er sie liebe und wie ihre Schönheit ihn beherrsche.

Endlich trennten sie sich; Constanze eilte in das Haus, den besprochenen Brief in aller Hast zu schreiben, während Robert seinen Geschäften bei dem Einfahren der Ernte nachging.

Robert Heine’s Gut Schönhaide war eine große, einträgliche Besitzung im Hessischen, deren Bewirthschaftung er selbst führte. Seitdem er das Gut vor ungefähr sechszehn Jahren käuflich übernommen, hatte er es mit seiner Familie im Winter wie im Sommer unausgesetzt bewohnt und sein einziges Kind nie von sich gelassen; Käthe wurde daheim unter seinen Augen erzogen und unterrichtet. Dabei war es den Eltern bei ihrer großen, nachsichtigen Liebe nicht aufgefallen, wie das lebhafte Kind ihnen allmählich über den Kopf wuchs, und sie erschraken nun, als jetzt plötzlich diese Wahrnehmung sich ihnen aufdrängen wollte.

Constanze war heute den ganzen Tag über still und in sich gekehrt; auch Heine’s sonst so lebhaftes Wesen hatte etwas Nachdenkliches, was er auch nicht ganz überwinden konnte, als er seiner Frau gegenüber beim Abendbrod saß, wo er sich doch sonst nach vollbrachtem Tagewerk einer behaglichen, jovialen Stimmung erfreute. Er aß zerstreut und starrte meistens schweigend vor sich hin. Plötzlich fuhr er überrascht auf und blickte gespannt durch das ihm gegenüber befindliche Fenster auf den Gutshof hinaus.

Der Telegraphenbote von der Eisenbahnstation Breitenstein schritt soeben auf das Haus zu.

„Was kommt nun da wieder?“ rief er. „Meldet Käthe etwa, daß sie sich ebenso schnell wie verlobt nun auch verheirathet hat?“ versuchte er seinen Schreck hinwegzuscherzen.

„Ich komme morgen früh zehn Uhr – Vater mag mich allein abholen. Käthe –“ lautete das Telegramm.

„Nun,“ meinte Heine sehr zufrieden und wie befreit aufathmend, als er diese kurze Meldung gelesen hatte, „sie scheint von selbst zu dem Einsehen ihrer Voreiligkeit gekommen zu sein, ohne daß es dazu Deines Briefes bedurfte, Constanze, der doch vor morgen früh nicht in ihre Hände gelangt wäre. Schlagen wir uns die Sorgen aus dem Kopf, liebe Frau! Ich hoffe, die ganze Geschichte war nur ein Strohfeuer, das uns unnöthiger Weise erschreckt hat.“ Er umarmte sein Weib.




Pünktlich um zehn Uhr am andern Morgen hielt Heine mit dem Jagdwagen auf dem Bahnhofe der Station Breitenstein, gerade in dem Moment, als der ankommende Zug an dem Perron vorfuhr. Die Zügel der Pferde einem dastehenden Dienstmanne zuwerfend, kam er eiligen Schrittes gerade noch rechtzeitig, als aus der kaum geöffneten Waggonthüre auch schon eine schlanke Mädchengestalt heraus- und dem Vater in die Arme sprang.

„Da bist Du ja, Wildfang!“ rief er gutgelaunt und küßte das Töchterchen zärtlich.

Sie war eine reizende, zarte Erscheinung, aber weder Vater noch Mutter ähnlich. Hellblondes Haar ringelte sich um Stirn und Schläfe, und große, tiefblaue Augen blickten darunter hervor. Doch so jugendfrisch und kaum entwickelt die ganze Erscheinung des Mädchens auch war, es lag doch in dem Feuer dieser großen tiefblauen Augen und um den kleinen festen Mund ungewöhnlich viel Charakter und Willensstärke ausgeprägt, vielleicht auch Eigenwille – wer konnte hier urtheilen? Es athmete noch so viel Werdendes aus dieser Mädchenknospe. Aber sonderbar – auf Käthe’s Gesicht leuchtete jetzt keine Freude dem frohen Willkommensgruß des Vaters entgegen, sie sah vielmehr so ernst aus, daß Heine sich im Stillen sagte: „Aha, das hat einen Liebesbruch gegeben, und der Trotzkopf ist dem Liebsten davon geflogen. Sehr gut! Wir wollen ihr schon die Kindereien vollends austreiben.“

Dann ließ er sie aus seinen Armen und griff helfend nach ihrem zahlreichen Handgepäck.

„Ich danke Dir, Vater,“ sagte sie, „daß Du gekommen bist, um mich zu holen – aber allein?“

Er sah sie lachend an.

„Dachtest Du wirklich, Käthe, jetzt in der Ernte habe Christian Zeit, die Mutter und mich in dem Landauer spazieren zu fahren, oder auf dem Jagdwagen sei außer für Dich und mich und Deine Siebensachen noch Platz für eine dritte Person? Deine Rücksicht auf die Mama war diesmal überflüssig, Gelbschnabel! Aber komm’! Ich habe Eile wieder nach Hause zu gelangen.“

Das Reisegepäck war sehr bald auf dem Wagen untergebracht, die Beiden stiegen auf, und die Pferde griffen zu schneller Fahrt aus.

Heine war heiter und gesprächig; er berichtete seiner Tochter von der Mutter, von Haus und Hof; er gab sich alle Mühe, seine Käthe aufzumuntern, indem er sich den Anschein gab, als bemerke er ihr verstimmtes Wesen nicht. Sie aber ging auf nichts von alledem ein und blieb still und einsilbig.

Jetzt führte die Straße eine Anhöhe hinan und zwang die Pferde zu langsamerer Gangart; da legte das Mädchen plötzlich ihre Hand auf des Vaters Arm und wendete ihm voll ihr Gesicht zu. Ein Zug von Bitterkeit lag um den kleinen Mund, und die großen Augen loderten in heftigem Feuer auf.

„Laß’ die Braunen gehen, Vater, und höre mich an!“ sagte sie, und nach augenblicklicher Pause fügte sie in sehr erregtem Tone hinzu: „Ich habe meine Großmutter gesehen.“

Er fuhr erschrocken zusammen. Erwartete er doch alles Andere eher, als diese Worte aus dem Munde seiner Tochter.

„Deine Großmutter?“ stammelte er bestürzt.

„Ja, Vater, die Mutter meiner armen Mutter, und von ihr habe ich erfahren müssen, wie sie, die Andere, all mein Lebenlang mich – betrogen hat!“

„Halt ein, Käthe!“ herrschte er sie heftig an. „Brauche nicht solche Worte, welche Deine Mutter, die Dich so innig liebt, nicht verdient hat!“

„Vater, nenne sie nicht meine Mutter! Ich kann das niemals wieder hören. Ich hatte eine Mutter, die ist aber längst todt, und in meine Kindesliebe, die doch ihr gehören sollte, hat Jene unter falschem Namen sich hinein gestohlen. Ist es recht, mich so zu betrügen? Ich kann Alles eher, nur nicht Lug und Trug ertragen.“

„Kind, mäßige Dich! Vor allen Dingen, ehe ich etwas darauf erwidere, verlangt mich zu wissen, was sich dort in Frankfurt zugetragen hat. Du überschüttest mich mit erstaunlichen Neuigkeiten – erst Dein Brief und nun Deine Reden!“

Bei der Erinnerung an das, was sie geschrieben, füllten sich ihre Augen plötzlich mit Thränen und ihr Mund zuckte unter dem Zwange, jene zurückzudrängen. Alle Härte war auf einmal aus ihren Zügen verschwunden; sie war plötzlich wieder ein liebendes Kind, das sich hülflos und zärtlich an des Vaters Arm schmiegte.

„O Vater, ich ahnte noch nichts von Alledem und war so glücklich, als ich an – – an Euch schrieb, daß Max Reinhard mich – mich liebe. Er ist Buchhändler und hat sein eigenes Geschäft, und er war der mir zuertheilte Brautführer an Minna’s Hochzeit. Er kam öfter in das Haus, auch nach der Hochzeit – Alle, die ihn kennen, ehren ihn und halten ihn hoch, und auch Du, Vater, wirst das thun, wenn Du ihn kennst. Er wird sich für einige Tage frei machen und morgen kommen, um Dich zu bitten, daß Du Deine Käthe ihm giebst. Bester Vater, ich liebe ihn so warm und war so glücklich – es ist nicht zu sagen wie sehr – und jetzt! –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_103.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)