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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

nur wenig an Freundlichkeit durch die Blumen, welche im ehemaligen Vertheidigungsgraben gezogen wurden, den man in ein Gärtchen verwandelt hatte.

Sie sprach sich selber Muth ein. Es war ja nicht das erste Mal, daß sie diese ausgetretenen Stufen, diesen dunklen Flur und die hallenden Gänge betrat. Schon mehrmals hatte sie Meinhard in seiner eigenen Behausung aufgesucht, wenn irgend eine Botschaft vom Bruder auszurichten war. Sie kannte den Weg zu dem alten verschnörkelten Eisengitter recht gut, das die Wohnung ihres Freundes von den Amtslocalitäten schied, aber freilich, ohne Begleitung war sie diesen Weg noch nicht gegangen. Mimi hatte sie sonst begleitet. Es war ein Hauptvergnügen des Kindes gewesen, die Winkel des seltsamen Gebäudes zu durchstöbern, durch die schmalen Spitzbogenthüren zu schlüpfen und die Glocke zu ziehen, deren dumpfer Schall an den vorspringenden Ecken und gedrückten Wölbungen ein gespenstiges Echo nach dem andern geweckt hatte. Heute mußte sie selber die Hand nach dem Klingelgriff aus geschwärztem Eisen ausstrecken. Und diese Hand zitterte ein wenig und zauderte, bevor sie den Zug that.

„Man sollte meinen, es sei des Löwen Höhle, in die ich mich wage,“ sagte sie lächelnd zu sich selbst, nachdem sie die Klingel gezogen.

Was lag daran, wenn der Diener, der ihr jetzt mit so verwunderten Augen öffnete, seine Glossen machte; es kann doch Niemandem einfallen, diesen Besuch zu mißdeuten. Ein Mann in Amt und Stellung empfängt deren mancherlei; warum sollte sie hier nicht gerade so ohne Scheu eintreten, wie eben noch beim alten Arzte? Allerdings galt ihr Anliegen nicht dem Beamten, sondern nur dem Freunde, aber auch der, dachte sie, würde ja nichts Ungewöhnliches darin sehen, daß sie zu ihm käme – nein, gewiß nicht. Sie standen beide in des Lebens Reife, und es war schon so lange, so lange her, seit – wieder streifte das Lächeln die Lippen – seit jenem Jünglingstraum.

Sie hatte den Anflug von Verlegenheit überwunden. Ruhig und mit der kühlen Herablassung der vornehmen Dame nahm sie die Versicherung des Dieners entgegen, er werde sie zwar gleich anmelden, aber es könne leicht einige Zeit vergehen, bevor sein Herr das Fräulein empfangen könne; denn der Herr Statthaltereirath käme eben jetzt schwer ab, es sei die Stunde der Unterschriften vor Postschluß. Hilda sah sich nicht neugierig um, als sie allein war; sie kannte ja bereits das Zimmer mit seiner ernsten Einrichtung und seinen hohen Bibliothekschränken. Meinhard war ein Bücherfreund, und gar manchen Band, den er ihr nach Waltershofen hinausgebracht, hätte sie hier herausgreifen können. Ihre innere Unruhe gestattete ihr jedoch nicht einmal in den ausliegenden Bilderwerken zu blättern. Aber was war das? Während ihr Auge über die goldgepreßten Einbände hinstreifte, blieb es plötzlich an einer kleinen Vase haften, die zwischen einigen Photographien auf dem Tische stand. Seltsamer Weise war es gerade ihr Portrait, vor der das zierliche Gesäß seinen Platz hatte, und in demselben hing man und farblos – ein welker Rosenstrauß.

Wie wenn die todten Blumen Augen hätten, um sie wieder zu erkennen, glaubte sie ihr vorwurfsvolles Nicken zu sehen. Wo waren die frischen blühenden Blüthen hingerathen, die als Ersatz an die Stelle ihrer abgestorbenen Schwestern treten sollten? Hilda hatte sie in eine fremde Hand gelegt. Warum hatte sie dem Freunde die Blüthen vorenthalten? Ein Unrecht erschien es ihr fast, an ihm begangen, der die Erinnerung an sie so treu bewahrte.

Es war sogar ein zarter Hauch von Wehmuth in dem Laut, der ihren Lippen, wohl ohne daß sie es wußte, entglitt: „Bruno!“

Der Name klang in ihrem Ohre wie von einer hellen Kinderstimme gerufen.

Bruno, das war ja der ernst-freundliche Knabe, mit den gemessenen Bewegungen, der unermüdlichen Bereitwilligkeit und den guten blauen Augen voll herzlicher Ergebenheit, Verwalters Bruno, der ihr immer zur Hand war, wenn sie ihn brauchte, und von dem sie, die kleine muntere Hexe, gar nicht zu denken vermochte, daß es auch anders sein könnte. War der Puppe ein Malheur passirt, dann wurde er Arzt, ging der Rauchfang des kleinen Kochherdes aus den Nieten, dann half er als Blechschmied. Wer sonst hätte es denn thun sollen? Wie hing sie dafür auch an seinem Halse unter bitterlichen Thränen, als er fortzog zur Universität! Und wenn er dann wieder in die Ferien kam, da hieß es wie ehedem: „Bruno, komm hierher! Du mußt mir das erklären, Du verstehst das viel besser als unser alter Professor im Institut,“ oder „Bruno, gieb mir Deinen Arm! Der weite Weg hat mich so müde gemacht.“

Nur wenn getanzt wurde, dann war’s mit Bruno nichts; er benahm sich gar zu ungeschickt dabei. Und „Bruno“ nannte sie ihn auch weiterhin noch, wenn auch das herangewachsene Dämchen sich sorgsam in Acht nahm, den jungen Herrn zu duzen. Sie waren ja keine kleinen Kinder mehr, es hatte sich alles so sehr verändert, nur Bruno nicht; er war der Alte geblieben, noch so treuherzig und gütig, aber auch schüchtern und linkisch wie ehedem. Er las ganz unübertrefflich ein Gedicht vor, setzte einen ernsten Gegenstand klar aus einander, aber in Gesellschaft war er so unbeholfen – besonders, wenn man ihn mit Wilhelm verglich.

Wie ein Zauber kam es mit dem matten Duft der welken Rosen über Hilda.

Ein Bild aus längst vergangener Zeit stand da vor ihren Augen, lebhaft und deutlich, als ob es Leben hätte. Die Sonne schien im Garten über ein Rosenbeet, von dem der Wind die Blätter über alle Wege hin geweht hatte, und dort schwammen auch ein paar Rosenblätter wie Elfenkähne auf dem kleinen unter dem Sonnenstrahl stetig zitternden Ocean des Springbrunnens. Und neben dem Bassin stand ein kaum erblühtes Mädchen und horchte auf die Worte eines jungen Mannes, der eifrig und warm sprach, doch allmählich immer stiller und schüchterner wurde und endlich fast mit versagender Stimme eine Bitte wagte, vor der er selbst zu erschrecken schien. Das Mädchen aber schüttelte den Kopf und that gar klug und gleichgültig, so heftig das kleine Herz in der Brust auch eine Minute lang pochte, und sprach von den ernsten Pflichten, die es übernommen, von dem Verlust, den das arme Kind des Bruders erlitten, von dem großen Lebenszweck, der einem Schwesterherzen damit erwachsen und der jeden selbstsüchtigen Gedanken ausschließe, und sah nicht, daß, während all die großen Worte fielen, das kleine mutterlose Ding, das kaum noch den ersten Schritt zu machen gelernt, dem Springbrunnen zugekrochen war und das Händchen nach den schiffenden Blättern streckte.

Es war nur ein Augenblick, doch der junge Mann hatte die Gefahr erkannt und war ihr mit der gewohnten Geistesgegenwart begegnet. Es war nur eine blitzschnelle Bewegung, ein Schritt, und dann ein Aufplätschern des Wassers; der junge Mann hatte plötzlich das Gleichgewicht verloren und war, das Kind bewahrend, selbst in das Bassin gestürzt.

„Ha, Bruno –!“ – der jähe Schreck, der Hilda an’s Herz fuhr, verwandelte sich bei dem munteren Geschöpfe, dem die ernsten Gefühle fremd wie die Trauerkleider standen, alsbald in ungemessene Heiterkeit. Es war auch gar spaßig anzusehen, wie der triefende Liebeswerber, mit Haaren, die ihm in die Augen hingen und einer seltsam wasserspeienden Cravatte, einem Flußgotte gleich, aus seinem nassen Grabe wieder auftauchte.

„Das war doch kein Selbstmordversuch, Bruno? Nein, so arg dürfen Sie sich’s nicht zu Herzen nehmen.“

Und ihr helles Lachen folgte ihm noch, als er schon weit aus ihrem Gesichtskreise entflohen war, so weit, daß es fast schien, als sollte er nimmer in denselben zurückkehren; es schien in der That für lange Zeit so; denn sofort nach dem unfreiwilligen Bade war er verschwunden, verschwunden aus seiner Anstellung, verschwunden aus der Stadt, verschwunden aus der Gegend, und man sah und hörte nichts mehr von ihm.

All diese Gedanken und Bilder waren Hilda beim Anblicke des verwelkten Bouquets vor die Seele getreten.

„Ja damals!“ flüsterte sie vor sich hin. „Wie lange ist’s nun wohl her? Mimi kroch noch auf Händen und Füßen. Wie alt und verständig man doch wird!“

Sie seufzte und blickte im Zimmer umher.

„Nichts als eine rechte Junggesellenwirthschaft!“ Und ihr Blick streifte wiederum, aber diesmal recht unfreundlich, die welken Rosen. „Da denkt kein Mensch daran, alte Blumen wegzu –“ sie konnte ihren Gedanken nicht zu Ende denken; denn plötzlich öffnete sich die Thür, und Meinhard stand vor ihr.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_108.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)