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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Willen auf dem Flecke ausgeharrt. Halb spöttisch, halb in seltsamer Bewegung hatte sie auf die heitere Gruppe geblickt, bis sie zuletzt, mächtig erfaßt von einer ihr bisher unbekannten Empfindung, wie träumend an dem Thürpfosten lehnte und das Antlitz in die Falten des schweren Vorhanges drückte.

Endlich war sie hinweggeschlichen, aber das Bild verwischte sich nicht vor ihren Augen, und in ihren Ohren klang es fort und fort:

„So lieb, so lieb, so lieb!“

Was war denn so Hohes, so Gedankenvolles gesprochen worden, daß es sie so sehr ergriff? Nichts, ein einfaches Geplauder, Koseworte dazwischen, und doch hatte noch keine Liebesscene in einem Buche, selbst nicht jenes wundersam bestrickende Zwiegespräch auf dem Balkon des alten Hauses der Capuletti in Verona, ihr Empfinden so bewegt, wie das eben Gehörte, Geschaute. Es war ihr, als sei ein elektrischer Funke auf sie übergesprungen – all ihr Blut war in Aufruhr.

Beängstigt, schwer athmend schritt sie wie eine Nachtwandlerin langsam von Raum von Raum, und die langjährige Gewohnheit führte sie an die Thür ihres Zimmers. Daß sie es nicht mehr bewohnte, kam ihr nicht in den Sinn; zu sehr waren ihre Gedanken bei dem eben Erlebten; es war ja auch nichts da, das ihr sagen konnte: dieses Zimmer ist nicht mehr das deine. Ihre Möbel waren in dem kleinen Salon verblieben; bis auf einzelne unbedeutende Veränderungen stand alles an derselben Stelle wie immer, und selbst die Töne des Claviers, auf dem eben ein paar Accorde angeschlagen wurden, vermochten sie nicht auf ihren Irrthum aufmerksam zu machen. In der letzten Zeit war sie es ja gewohnt geworden, daß dieses Gemach als ein allgemeiner Versammlungsort oder eigentlich als ein Musikzimmer betrachtet wurde, in welchem Albertine wie ihr Bruder, so oft sie die Lust zu spielen anwandelte, ungehindert Zutritt hatten.

So winkte sie auch jetzt Edwin, der bei ihrem Eintritt vom Clavier aufgesprungen war, sich nicht stören zu lassen, ja sie bat ihn sogar in der mechanischen Weise, wie man oft Höflichkeitsformeln zu sagen pflegt, weiter zu spielen, es sei ihr ein Vergnügen, ihm zuzuhören.

Und sie hörte, in die Ecke des Sophas gedrückt und die Augen auf die im Zwielichte noch matt erhellten Fenster gerichtet, in der That dem Spielenden zu, nur nicht mit jener bewundernden Aufmerksamkeit, welche derselbe bei ihr voraussetzte, ja sogar ganz ohne jenes auch nur dem technischen Geschicke oder der Melodienfolge zugewendete Verständniß, welches mindestens die Ueberlieferung von eigener Zuthat, das Bekannte von der Improvisation unterscheidet. Die Töne umflutheten sie nur wie ein Aethermeer, durch das sie dahinschiffte und das sie bald auf sanften Wellen schaukelte, bald auf anschwellenden Wogen emportrug und jeden Nerv in ihr zu fühlbarem Mitschwingen brachte.

Eine Stimme in ihr sagte ihr, wie wohl es dem Herzen thun müsse, eine Seele ganz sein eigen nennen zu dürfen. Hatte sie denn nicht dieses Bedürfniß gerade in den letzten Tagen zitternd empfunden, wo sie in steter Angst und Selbstbewachung ihr Geheimniß bergen mußte? Sich rückhaltlos aussprechen zu dürfen, ohne zurückgewiesen, ohne verrathen, ohne verspottet zu werden, und liebevollen Verständnisses sicher zu sein – das mußte doch eine Sicherheit verleihen, in der gut ruhen war, wie in der Wiege des Kindes, das ja auch stammelt, was die Natur ihm eingiebt. War sie denn selbst schon so alt, daß sie diese Sprache verlernt hatte und deren Laute nicht mehr zu finden vermochte?

Die Jahre waren dahingegangen; sie hatten ihr Herz ruhig und regelrecht schlagen gelehrt und ihren Gedanken, sobald sie auf die Zunge traten, ein strenges und abgemessenes Gewand zugeschnitten, aber ein Verjüngungsquell war plötzlich über sie heiß hinweggesprudelt, und jetzt dehnte es sich da in der Brust und die einschnürenden Fesseln gaben nach – sie vermochten das aufblühende Leben des Herzens nicht mehr zurückzudämmen. Das eingekerkerte Gefühl verlangte nach seinem Recht; das Herz rief nach Freiheit und rebellirte gegen den Verstand, der es beschwichtigt, überredet, ja kalt weggeleugnet hatte. Hier bin ich, und ich rege mich! Lange genug war ich beiseite geschoben, wie ein unnützes, lästiges Ding, aber ich bin nicht eingeschrumpft, nicht ausgetrocknet. Von mir geht das Blut aus und zu mir kehrt es zurück, und ich mache es zum Boten meiner Wünsche und durchglühe es mit meiner Flamme und jage den siedenden Schwall durch alle Adern. Wir wollen doch sehen, ob ich zu unterdrücken bin. Warum nur Anderen die Freiheit? Warum nur Anderen das Glück? Auch ich – hört mich! – auch ich will meinen Theil daran haben! Auch ich!

„Hilda!“

Wer sprach den Namen? Wer rief sie? Wo war sie doch?

„Hilda!“ wiederholte Edwin’s Stimme, und jetzt erst erkannte sie dieselbe. Wie ein Schatten war der Sprechende an ihre Seite geglitten.

„Sie sind ganz stumm. Hat Sie mein Spiel so sehr ergriffen, daß Sie nicht das kleinste Wörtchen des Beifalls für mich haben? Und ich glaubte, ich hätte mein Bestes gegeben. Der bescheidenste Lobspruch hätte mich beglückt.“

„Ich war wie unter einem Bann,“ sagte sie langsam, über ihre heiße Stirn streichend.

„Den dürfen Sie auch nicht brechen,“ fiel er lebhaft ein. „Sie dürfen sich diesem Eindruck nicht entziehen. Er ist mir weit mehr als die künstlerische Anerkennung; das Verständniß jener wortlosen Sprache der Seele zur Seele allein kann ihn hervorrufen.“

Die Musik und der süße Zauber der Dämmerung hatten auch ihn in eine Stimmung versetzt, welche die Wünsche seiner Mutter in seine eigenen zu verwandeln geeignet war. Und ihr Schweigen ließ nur die schmeichelhafteste Deutung zu. Fürwahr, Frau Rohrwek hatte Recht: es galt nur noch ein kurzes kriegerisches Spiel – und der Sieg war sein. Dieses vorausgenommene Triumphgefühl gab seiner Phantasie einen kühnen Schwung.

„Ja, Fräulein Hilda,“ sagte er, „dieses Verstummen ist mir ein Beweis, daß meine Hand die richtigen Accorde gegriffen, um dem Unaussprechbaren, das mich erfüllte, Töne zu verleihen; alles, was in mir lebte und nach Ausdruck rang, das schwebte auf dem strahlenden Lichtbogen, den die Musik zwischen uns ausspannte, zu Ihnen hinüber. Ein solches Eingehen auf die Empfindungen eines Anderen ist ein geistiges Einssein, die unverbrüchliche Bürgschaft innerlicher Zusammengehörigkeit. Ja, Hilda, dieser magische Rapport besteht zwischen uns; er wirkt sogar in die Ferne; er läßt mich Ihr Nahen ahnen, wie er die Botschaft meiner Wünsche zu Ihnen trägt; wir können uns nicht dagegen sträuben – er führt uns zusammen. Ist es nicht so? Sind Sie nicht einem unbewußten Drange gefolgt, als Sie hier eintraten? Lassen Sie mich daran glauben, daß der Bann, der Sie nach Ihrem eigenen Geständnisse umfing, schon vorher wirksam war und daß er Sie hierher zu kommen zwang, als ich Sie mit gewaltigen Tönen voll Sehnsucht herbeirief!“

Er hatte sich in ein Feuer hineingesprochen, das über die Leerheit seiner Worte hinwegtäuschte. Und als er nun von der mit so großem Pathos betonten „innerlichen Zusammengehörigkeit“ auch auf deren äußerliche und für das ganze Leben gültige Form zu sprechen kam und gleichsam symbolisch, wie um seiner Rede mehr Nachdruck zu geben, Hilda’s Hand erfaßte – da entzog sie ihm dieselbe nicht. Es war ein Gedränge von beängstigenden Empfindungen, unter deren Gewalt sie stand: zu dem einzigen Freunde, zu dem Gefährten ihrer Jugend, flogen ihre Gedanken – zu Meinhard. Bitterkeit erfüllte sie, wenn sie der letzten Begegnung mit ihm gedachte – Stolz und gekränktes Selbstbewußtsein bäumte sich in ihr auf; war er ihr nicht herrisch entgegengetreten? Hatte er sie nicht in ihrem tiefsten Empfinden verletzt? O, wie sie ihn haßte! Und dann trat das Bild des sterbenskranken Bruders da dranßen im Jägerhause vor ihre Seele; sie mußte ihm helfen, und sie konnte es nicht; denn sie war – allein.

Und jetzt bot sich ihr die Hand eines Mannes, der es gut mit ihr meinte – warum sollte sie dieselbe nicht ergreifen in der Stunde der Gefahr? Daß es auf die Voraussetzung ihrer Liebe hin geschah, bedachte sie nicht. Noch war es ihr fremd, dieses Gefühl, aber Edwin’s fröhliche Erscheinung hatte unstreitig etwas Anziehendes; sie meinte es jetzt schon wahrzunehmen, wie sich ihr sympathisches Wohlgefallen an ihm stärkte, und wenn sich erst sein unsteter Charakter gefestigt, dann lernte sie ihn vielleicht auch als ihren energischen Beschützer achten.

„Ich würde Sie auf den Händen durch’s Leben tragen,“ betheuerte er, „und an einem Seidenfädchen sollten Sie mich lenken. Ich glaube, daß ich ein wenig eitel bin, aber wie sollte ich es auch nicht sein, wenn ich selbst einen so hohen Preis zu gewinnen vermag – Sie! Sonst aber ist mit mir leicht zu leben; ich bin ein guter Camerad, und wir werden uns die Existenz so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_138.jpg&oldid=- (Version vom 7.8.2023)