Seite:Die Gartenlaube (1882) 155.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Glück für sie voraussehen konnte, für sie, deren seelische Bedürfnisse und Gemüthsregungen er jahrelang zu seinem eingehendsten Studium gemacht, so daß er es genau zu kennen glaubte.

Er erwog, nachdem seine Betrachtungen sich einmal dieser Seite zugewendet, still bei sich, ob er nicht warnend seine Stimme erheben müsse, aber man hatte ihm ja mit der Freundschaft das Recht dazu gekündigt.

Das Erscheinen des Kammermädchens setzte seinen Betrachtungen ein Ziel. Mit ruhiger Freundlichkeit nahm er die Mittheilung entgegen, daß er Niemand zu Hause finde außer dem Fräulein Hilda, welche sich im Salon befinde. Bevor er jedoch dort eintrat, zögerte er noch einen Augenblick an der Thür. Dann aber hatte der feste Wille des Mannes den Ausdruck der Bekümmerniß aus seinen Zügen hinweggewischt, und seine Stimme – das fühlte er – hatte wieder Festigkeit gewonnen. Die tiefe Leidenschaft, die er sein ganzes Leben hindurch im Zaume zu halten gewußt, sollte er sie in diesem letzten Momente des Kampfes, jetzt, wo er im Begriffe stand, für immer von Hilda zu scheiden – sollte er sie jetzt nicht zu bezwingen vermögen? Er war ein Mann – und er war seiner sicher. Ruhig setzte er den Fuß auf die Schwelle des Salons.

In der nächsten Secunde stand er Hilda gegenüber.

Sie war nicht mehr in der unnatürlichen Erregung des vergangenen Tages. In Folge der nervösen Ueberreizung und vielleicht auch ein wenig des Champagnergenusses, dem sie über ihre Gewohnheit zugesprochen, war sie am Abend in einen tiefen schweren Schlaf verfallen, der sich bis spät in den Morgen hinein verlängert hatte. Bei ihrem Erwachen zeigte sich ihr alles in einem nüchternen Lichte, das unbarmherzig alle Täuschungen zerstörte.

Was hatte sie gestern gethan? Ach, um ihr Leben hatte sie wie ein Spieler gewürfelt, ihr Wort verpfändet, und nun war sie die Braut eines Mannes, den sie nicht liebte, der um soviel jünger war als sie, der ihr nicht einmal jene Achtung abrang, die man dem ernsten Wollen, dem festen Charakter auch eines Jüngeren zollt, ja für den sie beinahe etwas wie die Nachsicht eines mütterlichen Wohlwollens empfand. Wie war es denn nur gekommen, daß sie sich so rasch hatte entschließen können, ihm – gerade ihm ihre Hand zu versprechen?

Wilhelm! – der Gedanke an ihren Bruder blitzte in ihr auf, und damit gewann alles wieder Schluß und inneren Zusammenhang. Einer helfenden Hand für den kranken Bruder im Jägerhause hatte sie bedurft, und die hatte sie gefunden. Das erklärte alles; das erklärte ihr Opfer. Wilhelm! Schnell zu ihm! Schon am frühen Morgen hätte sie im Jägerhause sein sollen, und nun war der Vormittag schon so weit vorgerückt. Sie mußte mit Edwin alles ordnen; er konnte ihr seine Hülfe nicht versagen; denn sie war – sie erschrak bei dem Gedanken – sie war seine Braut.

Da vernahm sie Schritte, Männerschritte, an ihrer Thür. Das konnte nur Edwin sein. Sie trat zur Thür und – sah Meinhard in’s bleiche, ernste Gesicht.

Betroffen wich sie zurück. Sie hatte das Gefühl eines Kindes, das auf unrechten Wegen ertappt wurde, und in Scham und Verlegenheit schlug sie den Blick nieder vor Meinhard’s strengen Augen, in denen sie nur zu deutlich die bange, schmerzliche Frage las: „Was hast du gethan?“ – dieselbe Frage, die heute unerbittlich all ihre Gedanken kreuzte. Aber dann durchzuckte sie wieder der Gedanke: Er – ganz allein er trägt die Verantwortung für Alles, was geschehen.

„Lassen Sie mich mit einem Friedensworte beginnen!“ sagte Meinhard ruhig, indem er näher trat und seinen Hut ablegte, „lassen Sie mich Ihnen meinen – Glückwunsch darbringen! Nicht in dem gewöhnlichen Sinne geschieht es, sondern es ist wirklich mein inniger Wunsch, daß Sie Ihr Glück in der soeben geschlossenen Verbindung finden mögen, weil es mich betrüben würde, Sie nicht glücklich zu wissen.“

„Die Nachricht muß ja Flügel gehabt haben, daß sie schon zu Ihnen gedrungen und Sie zu so ungewöhnlich früher Zeit hier erscheinen,“ entgegnete Hilda, welcher der tiefere Sinn seiner Worte nicht entgangen war; sie zwang sich, eine spöttische Mißbilligung ihrer Wahl aus seinen Worten herauszuhören, um sich gegen ihre eigene Beklommenheit mit allem Stolze wappnen zu können. Wollte er ihre letzte Begegnung im Amtshause vergessen – gut, sie ging darüber nicht hinweg. „Uebrigens kann ich für Ihre Theilnahme kaum danken,“ sagte sie. „Glück oder Unglück, was mich auch treffen wird, ich beanspruche es ja ganz allein für mich. Was die Andern angeht, so wird nur in Betracht kommen, daß von jetzt ab mein Wille eine unbedingte Berücksichtigung finden wird, weil mir die Mittel zu Gebote stehen, ihm Nachdruck zu verleihen.“

„War das der einzige Beweggrund zu Ihrem Entschlusse?“ fragte er gespannt.

Sie senkte trotzig die Lider vor dem Blick, der sie bis auf den Grund der Seele durchforschen zu wollen schien. Wie dreist war es von Meinhard, eine solche Frage an sie zu richten! Sie verdiente keine Antwort.

„Ich bedaure,“ sagte sie dann, „daß augenblicklich mein Bräutigam nicht hier ist, um sich mit Ihnen über das Recht aus einander zu setzen, welches Sie in so ausgedehntem Maße auf mein Vertrauen beanspruchen. Er ist in der Stadt. Uebrigens dürfen Sie ihn heute noch zur Regelung meiner finanziellen Angelegenheiten erwarten.“

Meinhard richtete sich kalt auf.

„Dazu bedarf es keines Mittelsmannes, Fräulein Hilda,“ er nahm mit großer Ruhe aus der Brusttasche dasselbe Paket, das er ihr gestern vorenthalten.

„Hier!“ sagte er. „Ihnen dies zu überreichen ist der Zweck meines Kommens.“

„Sie bringen mir das Geld?“ rief Hilda erstaunt und nahm das Paket aus seiner Hand; sie zwang sich zu einem kalten Ton, indem sie fortfuhr: „Sie kommen wohl aus Furcht vor den Folgen Ihrer Weigerung?“

„Möglich. Aber nicht vor denen, die mich treffen könnten.“

Er betonte das so sonderbar. Bestürzt sah sie zu ihm auf. Was wollte er damit sagen? Wußte er – –? Langsam, um ihre Unruhe zu verbergen, ging sie auf das kleine Sopha zwischen den Fenstern zu und ließ sich darauf nieder. Noch immer drückte sie das Paket fest und leidenschaftlich an sich, als könnte es ihr wieder entrissen werden.

„Haben Sie Dank, daß Sie kamen!“ sagte sie, „Sie thaten gut daran, meinem Bevollmächtigten zuvorzukommen.“

„Ihrem Bevollmächtigten zuvorzukommen? Das war gar nicht meine Absicht, namentlich wenn Sie unter Ihrem Bevollmächtigten Herrn von Tonner verstehen. Die Nachricht von Ihrer Verlobung erhielt ich soeben erst hier. Hätte ich darum früher gewußt und um Herrn von Tonner’s Anwesenheit in der Stadt, so wäre mir der Weg hierheraus erspart worden und –“ erst nach einer kleinen Pause setzte er leise, aber mit einem Anklange von Bitterkeit hinzu – „diese Begegnung. Ich hatte keinen Anlaß, dieselbe zu suchen, obwohl es mir leid gethan, daß Sie gestern in Unwillen von mir schieden. Ich hätte meinen heutigen Besuch sogar vermieden, weil ich der Meinung war, daß er Ihnen nicht erwünscht kommen dürfte. Darum wollte ich nur Franz aufsuchen und in seine Hände das mir anvertraute Gut zurücklegen, dessen Verwaltung ich so wie so nicht mehr zu führen in der Lage bin, selbst wenn die räumliche Entfernung unserer künftigen Wohnsitze nicht allzu viele Unzukömmlichkeiten mit sich brächte.“

Abermals trat eine kurze peinliche Pause ein. „Unsere künftigen Wohnsitze“ hatte er gesagt. Das Wort fiel, wie weckend, in Hilda’s Ohr. So wollte er fort von hier? Sie fühlte, wie die Kälte ihrer Empfindung plötzlich wich; bei dem Gedanken, daß er scheiden wollte, überfiel sie ein unnennbares Bangen; es war etwas in ihr, das sie einer Schuld zieh, einer Schuld des Herzens am Herzen, etwas, das sie fragte: Hast du ihm doch vielleicht Unrecht gethan?

Schweigend stand er ihr gegenüber; sie fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Er griff nach seinem Hute; er wollte gehen – aber sein Herz war mächtiger als sein Stolz; so that er denn einige Schritte auf Hilda zu und bot ihr freundlich und ernst die Hand:

„Sie hatten gestern Recht, Hilda; ich durfte Ihnen die freie Verfügung über Ihr Eigenthum nicht schmälern, aber es giebt im Leben Lagen, wo man einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß, wo jede andere Entscheidung ein unsühnbares Unrecht gegen dasselbe ist. Ich hätte Ihnen vertrauen sollen, aber man irrt oft bei den besten Absichten. Ich hoffe, diese Erklärung genügt, um uns friedlich scheiden zu lassen. Hilda, möge Ihnen alles, alles zum Glück ausgehen, und grüßen Sie mir recht herzlich Ihren Bruder! Gern hätte ich ihn noch einmal gesehen, aber meine Abreise drängt, und er kommt wohl bald einmal nach Wien.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_155.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)