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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

sprich heute Abend nicht mehr dem Weine zu! Ich bitte Dich darum.“

„Er hat keine drei Gläser getrunken,“ warf Schöpf ein. „Es ist nichts als die pure Freude. Also längstens um Neun!“

„Um Neun!“ sagte sie, lehnte Halder’s Begleitung ab und eilte durch den Wald zurück.

Wohl war ihr alles klar, was geschehen mußte, aber eine Frage blieb doch, ob sich auch alles Andere günstig zu fügen schien. Dem Sturm bei Franz sah sie jetzt ruhigen Auges entgegen; es war ja viel Schwereres über sie hinweggezogen. Dem Unmuth des erzürnten Bruders Stand zu halten, schien dagegen ein Leichtes – aber wenn nun Franz heute nicht heimkam? Es war ja leicht möglich, daß er, wie es schon zuweilen vorgekommen, die Gastfreundschaft bei Saaldorf’s in Anspruch nahm und über Nacht dort blieb. Was dann – dann?

Da plötzlich tauchte wie eine erleuchtende Antwort auf ihre Frage Edwin vor ihr auf, und es war nicht nur sein Bild, sondern er selbst in voller Körperlichkeit, der ihr vom Ende des Hohlwegs entgegenkam.

Er winkte schon von Weitem und schwenkte seinen Hut.

Erstaunt aber hielt sie den Schritt an, als er sie mit einem Vorwurf begrüßte.

„Um des Himmels willen, wo stecken Sie denn? Wo waren Sie so lange? Wir sitzen schon längst bei Tische, und Sie entziehen sich uns und streifen im Walde umher, während wir Sie vergeblich zum Essen erwarten?“

„Mein Gott, ist es schon so spät? Verzeihen Sie!“ sagte sie und bot ihm mit freundlichem Lächeln die Hand. „Mir verging die Zeit so rasch.“

„Ja, in interessanter Gesellschaft zählt man die Stunden nicht. Während ich voll Sehnsucht der Zeit Flügel verleihen möchte und in steten Gedanken an Sie nach einem Symbol suche, würdig genug, meinen Gefühlen als äußerliches Zeichen zu dienen, während ich meine Seufzer als geflügelte Boten zu Ihnen sende, vergessen Sie meiner im Verkehr – im Verkehr mit anderen Männern, Hilda.“

„Es war kein heiteres Geplauder, das mich zurückhielt, Edwin – o, das können Sie mir glauben,“ erwiderte sie tief verletzt und seinen Worten den für sie einzig denkbaren Sinn unterlegend. „Meinhard war bei uns; er kam, um Abschied zu nehmen. Sie wissen doch: er ist versetzt worden.“

„Sie empfangen aber nicht blos Besuche, sondern statten auch solche ab.“

Woher wußte er –? Betroffen blickte sie zu ihm auf.

„Ich statte Besuche ab? Was bringt Sie auf diese Vermuthung?“

„Glauben Sie denn nicht an die Divinationsgabe der Liebe? Sie sieht in die Ferne. Sie hört das Lachen, mit dem sie verhöhnt wird in heimlichen Zusammenkünften.“

„Dann hört sie in diesem Falle falsch,“ fiel Hilda erschrocken ein. Dieses Pathos ging für eine Neckerei denn doch zu weit. „Aber wenn Sie es denn durchaus wissen wollen,“ sagte sie mit dem stolzen Selbstbewußtsein eines reinen Herzens, „so hören Sie: ja, ich hatte allerdings eine Zusammenkunft.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Gedenkblatt an Goethe.

(Zur fünfzigsten Wiederkehr seines Todestages.)

Fünfzig Jahre sind seit dem Tode des großen Dichters verflossen: an seinem Gedenktage gehen die Bilder seines Lebens zugleich mit den Gestalten, die er geschaffen, an unserer Seele vorüber, und wir fragen uns, was aus dem Erbe geworden ist, das er der Nation hinterlassen hat.

Vom Hause am Frankfurter Hirschgraben, wo des Patriciersohnes Wiege stand, bis zur Fürstengruft in Weimar, welch ein schöner, reicher Lebenslauf! Nach einer feurigen Jugend, hingebracht im Glück und auch in den Verwüstungen der Leidenschaft, ein rasches Einlenken in die Bahn eines geordneten Lebens, ein rasches Emporsteigen zu ersten Staatsämtern, eine durch die Freundschaft eines begabten Fürsten wie im Flug errungene hohe gesellschaftliche Stellung! Nie berührte Goethe die Noth des Lebens, die an Schiller’s Genius zehrte, und so wurde in den friedlichen Schatten der hohen Bäume an der Ilm der Apollo, der in Jugendschönheit die goldene Harfe geschlagen, zum Jupiter, der mit seinen Brauen den literarischen Olymp erschütterte. Als er zuerst in Weimar erschien, war er der Liebling der Musen und Grazien, der Frauen und Jungfrauen; selbst die Männer begeisterten sich für ihn, und Wieland, den er kurz vorher angegriffen, war, wie er selbst bekennt, so voll von Goethe, wie ein Thautropfen von der Sonne. Er war ein Kind des Glückes, schon weil er die Stimmung hatte, das Glück zu genießen, das ihm entgegenkam.

Jene Zeit der „wüthigen“ Ausgelassenheit und wilden Naturfreude ging vorüber, doch die Herzensneigungen, die sein Leben erhellten, bisweilen auch „umdüsterten“, begleiteten dasselbe in spätere Jahre. Dank dem Eifer unserer Goetheforscher sind ja sehr viele Blüthen gesammelt, welche zur Liebeschronik unseres Dichters gehören; denn diese Herren, welche eine oft recht indiscrete Laterne führen, haben sich viel Mühe gegeben, alle diese leichtgeflügelten Amoretten für das Nationalmuseum auszustopfen. Mag man vom Standpunkt der Moral aus über Goethe’s Liebesabenteuer denken wie man will, so viel steht fest: wenn es zu einem glücklichen Naturell gehört, Schönheit und Liebe, die freundlich am Lebenswege stehen, nicht auf Erwiderung warten zu lassen, dem Vergangenen und Entschwundenen aber keine unheimliche Herrschaft über das Gemüth einzuräumen, sondern ihm nur das Recht einer freundlichen Erinnerung zu gönnen, so war Goethe auch hierin ein Kind des Glückes; seine verlassenen Geliebten, wie das Pfarrerstöchterlein von Sessenheim, folgten ihm nicht als drohende Schatten nach, sondern sie wandelten verklärt auf den Asphodeloswiesen seiner Träume; stets hatte er die Elfen zur Hand, die ihm mit „Lethe’s Thau“ die Vergangenheit aus der Seele badeten oder „mindestens des Herzens grimmen Strauß besänftigten“, und wenn die Romantiker das immerhin bedenkliche Vorrecht des Genies verkündeten, daß es über die bürgerliche Moral erhaben sei, so mochten sie in dieser Beziehung mit Recht auf Goethe verweisen – wie viel sich auch vom Gesichtspunkt der Gesellschaft und der Sitte gegen diese Unbefangenheit des großen Mannes sagen läßt.

Und welch ein Glück gewährte dem gealterten Dichter die wachsende Anerkennung der Mitwelt, wie stand er in der Mitte der Weltliteratur, deren begeisterter Herold er geworden war! Die Andacht einer verzückten Gemeinde, die Bewunderung der Menge, die Huldigungen, die ihm die großen Geister und hervorragenden Köpfe der andern Völker zollten – hat jemals eine Dichterstirn ein reicherer Lorbeer geschmückt?

Doch es war nicht immer so, und das Leben, dessen Gesammtbild so sonnenhell erscheint, hatte auch seine düsteren Stunden. Da mochte auch der lebensfreudige Dichter am Leben verzweifeln und jene wehmüthige Todessehnsucht über ihn kommen, wie er sie ausgesprochen in den Versen der Waldhütte des Kickelhahns:

„Die Vögel schweigen im Walde;
Warte nur, balde
Ruhest du auch!“

Auch jener Sonnenschein des Ruhmes, von dem wir sprachen, hat nicht immer sein Leben erhellt, und in solchen Verdunkelungen mochte er an seinem Stern verzweifeln.

Das Wachsen und Werden der Classicität ist ein dunkles Geheimniß; es gab Epochen, Epochen von jahrelanger Dauer, in denen die Nation an ihre großen Dichter nicht glaubte. Goethe hatte mit seinem „Götz“ und „Werther“ einen Erfolg gehabt, der ihn zum Modedichter machte. Doch die Mode ist vergänglich und haftet an einem bestimmten Genre. Als der Dichter andere Bahnen einschlug, wollte ihm die Nation nicht folgen.

Fast alle seine Meisterwerke, welche das Piedestal seines Weltruhmes bilden, waren in der Gesammtausgabe seiner Werke enthalten, welche in den Jahren 1786 bis 1790 bei Göschen in Leipzig erschien, und diese Gesammtausgabe lag wie Blei in den Fächern des Buchhandels; er selbst schreibt darüber:

„Die Auflage meiner gesammelten Schriften fiel in eine Zeit, wo Deutschland nichts mehr von mir wußte, noch wissen wollte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_172.jpg&oldid=- (Version vom 10.8.2023)