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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Etwas über die Lage der Deutschen in England.

Von Wilhelm Hasbach.


Es gehört unstreitig zu den anziehendsten Capiteln der Culturgeschichte, dem breiten und vielverzweigten Strome der deutschen Auswanderung zu folgen und zu schauen, wie er in fernen Ländern wüste Strecken urbar macht und unter weniger civilisirten Völkern echte Bildung und Sitte verbreitet. Nicht minder interessant ist es aber, die Lage der deutschen Einwanderer in hochcivilisirten Ländern zu prüfen und zu erfahren, wie dort unsere Landsleute unter ebenbürtigen Nationen an den Werken der Cultur rastlos arbeiten und durch ihren emsigen Fleiß die Ehre des deutschen Namens zu wahren wissen. Ein solches Bild des deutschen Lebens und Strebens auf englischem Boden soll in den nachfolgenden Zeilen unseren Lesern vorgeführt werden, ein Bild, das einen Einblick in die stolzen Erfolge, welche die deutsche Colonie in England errungen, und die Leiden, welche sie dort zu erdulden hat, eröffnet.

Im Jahre 1871 (die Berichte über die jüngste englische Volkszählung von 1881 sind noch nicht veröffentlicht) zählte man in England 32,823 Deutsche, und zwar 21,232 männlichen und 11,591 weiblichen Geschlechts.[1] Unsere Landsleute bildeten den größten Bestandtheil aller Fremden; denn ihre Zahl betrug 32,64 % der Gesammtsumme fremder Einwanderer, während diejenige der Franzosen sich auf 17,81 %, die der Polen auf 7,02 % und die der Holländer auf 6,22 % belief.

Theilen wir nun die Deutschen in England in einzelne Gruppen ein, je nach dem Beruf, dem sie sich widmen, so ersehen wir, daß die Mehrzahl unserer Landsleute im Handel und Gewerbe beschäftigt ist. Nehmen wir also diese wichtigsten Zweige der deutsch-englischen Colonie zum Ausgangspunkte unserer heutigen Betrachtungen!

Der deutsche Handelsstand ist hier in commercieller Beziehung nicht gerade beliebt. Von Zeit zu Zeit wird in Zeitungen untergeordneter Bedeutung eine kleine Deutschenhetze veranstaltet, die immer wieder dieselben Gedanken vorbringt. Eine Stelle aus dem „Globe“, welche der prägnanteste Ausdruck der allgemeinen Ueberzeugung ist, soll hier folgen. Der Meinungskampf wurde in der beliebten Weise englischer Zeitungen durch an die Redaction gerichtete Briefe geführt. Er wurde eröffnet durch die Epistel eines „Preußen“, welche sehr roh gewesen sein soll. Darauf wurde nun in der folgenden Nummer erwidert: „Ganz so, wie er – der Preuße – sich darüber beklagt, daß die Juden in Deutschland auf Kosten der Deutschen reich werden, so klagen englische Kaufleute, daß die Deutschen, welche heerdenweise herüberkommen, auf Kosten der Engländer reich werden. – Ihre Kaufleute unterbieten uns; ihre Commis arbeiten für niedrigere Löhne, als die unserigen, und da ihre Begriffe von kaufmännischer Ehre weiter, als diejenigen englischer Kaufleute sind, so gelingt es ihnen gewöhnlich, in kurzer Zeit ein großes Vermögen zu erwerben. Aber nun kommt der Unterschied. Der deutsche Jude, der in Deutschland Geld im Verkehre mit Deutschen gemacht hat, bleibt dort und giebt es dort aus, wo er es verdient hat, während der Deutsche, welcher in der äußersten Armuth nach England gekommen ist, reich in sein Vaterland zurückkehrt, um unter seinem Volke seine Tage zu beschließen und sein Geld auszugeben. Gehen Sie, wohin Sie wollen – Sie werden in jedem Kreise englischer Kaufleute dieselbe Meinung über die Deutschen hören. Es ist nicht zu viel gesagt, daß sie allgemein verhaßt sind. Sie verkaufen zu niedrigeren Preisen; sie betrügen uns (overreach), und zur selben Zeit schimpfen sie über das Land, welches sie gastfreundlich aufnimmt.“ Der Artikel ist unterzeichnet: „Ein Engländer und ein Jude.“

Der Vorstellung, daß die deutschen Kaufleute, welche sich mit bedeutenderem Gewinn aus dem Geschäft zurückziehen, regelmäßig nach Deutschland zurückkehren, muß an der Hand der Statistik entschieden entgegengetreten werden. Die auf eine arme Bevölkerung von 30,000 Menschen entfallende Rentnerzahl ist nothwendig gering. Wenn aber laut amtlicher Zählung 62 Deutsche, die von ihren Renten leben, in England verbleiben, so kann der in’s Vaterland wieder einwandernde Theil reich gewordener deutscher Kaufleute nicht groß sein.

In der folgenden Nummer des „Globe“ fand sich nachstehendes, von der Redaction des Blattes geschriebene Entrefilet: „‚Ein in England lebender Deutscher‘ protestirt in, wie wir gestehen müssen, gemäßigten Ausdrücken gegen den Ton des Briefes, welchen wir gestern mit der Unterschrift ‚Ein Engländer und ein Jude‘ brachten. Der Deutschenhaß (anti-German Feeling) in diesem Lande, von welchem der zuletzt genannte Verfasser sprach, mag nicht so gerechtfertigt sein, wie er glaubt, aber wir sind der Meinung, daß Niemand, welcher viel in Gesellschaft verkehrt, die Existenz dieses Gefühles leugnen wird. Wenn ‚Ein in England lebender Deutscher‘ es nicht bemerkt hat, so muß er dies der guten Erziehung der Engländer zuschreiben, mit welchen er zusammengekommen ist.“

Ich habe mich natürlich bemüht, englische Kritiken über diese Stellen zu hören. Ueberall gab man zu, daß die Abneigung gegen die Deutschen bedeutend sei. Aber ein englischer Kaufmann erzählte mir auch, daß die deutschen Kaufleute sich viel mehr Mühe zu verkaufen gäben, als die englischen und deshalb den Engländern eine erfolgreiche Concurrenz bereiten.

Der deutsche Commis zeichnet sich durch meistens schwer wiegende Vorzüge im Vergleich mit seinen englischen Collegen aus, vor Allem durch eine bessere geistige Bildung, welche er sich in Realschulen, Bürgerschulen und Handelsschulen erworben hat. Mit Hülfe seiner Kenntniß mehrerer moderner Sprachen – diese besitzt er gewöhnlich – gelingt es ihm in kurzer Zeit, sich das fremde Idiom für alle zunächst wichtigen Zwecke anzueignen. Er bringt meistens nach England den Fortbildungstrieb mit, welcher den deutschen Kaufmannstand so vortheilhaft von demselben Stande in andern Ländern unterscheidet, und diese Neigung wird noch unterstützt durch die Gewöhnung an ernste, geistige Arbeit, durch eine höhere anregende Allgemeinbildung und den uninteressirten Wissensdrang, welcher häufiger in Deutschland, als in England gefunden wird. Der junge Engländer hat in der Militärpflicht keinen äußeren Zwang. Die Schulen sind theuer und sehr oft schlecht. Zudem verdient er der Regel nach nicht den Namen eines lernbegierigen Schülers von rascher Auffassung, und der Ruhm, im Football oder Cricket zu glänzen, steht ihm oft genug höher, als die Kenntniß fremder Sprachen. Junge Leute aus nicht gerade vornehmer oder reicher Familie, welche für den Kaufmannsstand bestimmt sind, erhalten zudem in den meisten Fällen nur eine gewöhnliche Elementarschulbildung, da die Engländer zu glauben pflegen, daß ein Mensch, welcher eine höhere Bildung besitzt, nicht gewöhnlicher Kaufmann sein könne. Kann ein so vorgebildeter junger Mann nach Ablauf der Geschäftsstunden für etwas anderes, als Vergnügen der simpelsten Art Sinn haben? Nicht zu vergessen ist es eben, daß einen der tiefsten Schäden des heutigen Englands der Mangel an Gelegenheit zu veredelnden Vergnügungen bildet.

Dazu kommt der volkswirthschaftlich außerordentlich wichtige Umstand, daß die Lebensführung des Engländers höher ist. Der englische standard of life hat eine gute und eine schlechte Seite. Gut ist der höhere Werth, den man überall in England auf genügende Quantität und gute Qualität der Nahrung sowie auf eine würdige äußere Erscheinung legt. Gut sind weiter die

  1. Es fanden sich Deutsche fast in allen Berufsclassen. Ungefähr 70 waren in der Staats- und Selbstverwaltung thätig. Es werden aufgezählt über 80 Officiere und Soldaten, über 40 Geistliche, mehr als 700 Aerzte und Apotheker, 50 Schriftsteller, 100 Maler und Photographen, 173 Musiker und nicht weniger als 45 Straßenmusikanten. Unter dem Namen Lehrer, Erzieher und Professoren befanden sich damals gegen 500 Personen in England. Die Wirthshaus-, Schänken- und Gasthofsbesitzer erreichten mit ihrem Personale die stattliche Zahl von 1000 Personen. Dieselbe Höhe zeigte die Ziffer der Großkaufleute. Mehrere Hundert Agenten waren im Lande thätig. Die Commis hatten es auf 1257 gebracht. Auch darin that sich Deutschland hervor, daß es die größte Anzahl von Pfandleihern nach England entsandte. Vielleicht fällt einiges Licht in dieses Dunkel, wenn man erwägt, daß die Nation, welche uns am nächsten kam, die polnische war. Es gab damals 33 deutsche und 32 polnische Pfandleiher in England. Die Zahl der Buchhändler und Buchdrucker näherte sich der Ziffer 100. Die Musikinstrumentenmacher und Musikhändler waren etwas zahlreicher. Die Zahl der Uhrmacher betrug ungefähr 900, die der Bau- und Möbeltischler 650, der Schneider 1600, der Schuster 700, der Metzger 400, der Bäcker 1300, der Zuckerraffineure 900, der Goldschmiede und Juweliere 300. – Unter den Frauen hatte die Majorität den Beruf der Hausfrau eingeschlagen. Der Census führt 6120 Ehefrauen, 2200 Dienstmädchen und 1300 Gouvernanten auf. – 62 Personen lebten von ihren Renten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_195.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2022)