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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

– im dunkelnden Walde. Vergeblich hatte sich Edwin angeboten, den Gutsherrn zu begleiten; jetzt stand er Mimi gegenüber, welche ganz verbittert und trotzig auf die Erde starrte, in die sie mit der abgebrochenen Haselruthe zornig tiefe Löcher bohrte.

Zärtlich blickte er sie an, und seine Stimme hatte nicht ganz den rechten Ernst des Vorwurfs, wie er ja auch die Hälfte der Verantwortung großmüthig auf sich nahm, indem er kopfnickend sagte:

„Fräulein Mimi, jetzt haben wir aber etwas Schönes angerichtet.“ – –

Inzwischen war der Gutsherr damit beschäftigt, sich Aufklärung zu suchen. Er hatte nur wenige hundert Schritte quer durch den Wald aufwärts bis zum Jägerhause. Vor demselben stand des Doctors alterthümlicher kleiner Wagen, in welchem er über Land zu fahren pflegte. Der Kutscher war jedoch nicht bei dem Pferde, sondern saß, wie Franz beim Eintritt in die Stube bemerkte, mit noch einem Manne am Tische und zwar im eifrigsten, wenn auch gedämpften Gespräche mit Trine, welche die Flasche Wein, aus der sie Beiden eingeschenkt, über dem Interesse ihrer eigenen Mittheilungen wieder hinzusetzen vergessen hatte.

„Jesus, der gnädige Herr!“ rief sie, erst durch die auf den Tisch schnüffelnden Hunde aufmerksam gemacht.

Staunend erkannte Franz in dem Manne, der früher im Dunkeln gesessen hatte und der sich jetzt erhob, einen Gensd’armen. Was konnte der hier zu suchen haben? Sollte die Vermuthung doch zutreffen? Aber zuweilen kam es ja vor, daß ein solcher auf seinen Streifzügen in dem einsamen Hause einsprach und Erkundigungen einzog.

„Ist ein Kranker hier?“ fragte der Gutsherr nur kurz, „ein Kranker, bei dem der Doctor zu thun hat?“

„Wir sind just zuvor erst gekommen,“ erklärte der Kutscher, dem dies als das Wichtigste erscheinen mochte.

„Gerade wie gerufen, gnädiger Herr,“ übernahm nun Trine in ihrer unwirschen Weise die Antwort. „Aber doch schon zu spät. Es ist nur gut, daß der Halder zum Herrn Pfarrer gegangen ist. Wenn der nur schnell käme. Du lieber Gott, ich hab’s gleich gewußt, daß es so kommen wird. Ja, die jungen Leut’, gnädiger Herr! Das Elend und der Jammer, das ist’s, was einen Menschen herunterbringt, und wenn Einer so schwach ist, da reißt es ihn gleich zusammen, man weiß nicht wie. Es ist kein Wunder. Muß da noch der schlechte Mensch kommen! Ich hab’ ihm von allem Anfang nichts Gutes zugetraut, aber der Jäger, der wäre noch gut Freund mit ihm geworden. Ja, die jungen Leut’, wenn bei denen einer nur recht unterhaltlich ist und was zu erzählen weiß – und so ein Lump muß auch noch den Angeber spielen, weil er selber nicht mehr aus noch ein kann. Der verdient den Galgen, wenn noch eine Gerechtigkeit auf der Welt ist.“

„So viel wird ihm wohl nicht geschehen,“ meinte der Gensd’arm, an den sie sich mit den letzten Worten, wie wenn sie ihn persönlich verantwortlich mache, gewendet hatte.

„Was ist denn eigentlich hier vorgefallen?“ fragte ihn nunmehr auch Franz, der aus dem Gerede der Alten nicht klug zu werden vermochte.

„Eigentlich nur ein paar leichte Prellereien,“ lautete der Rapport, „aber die Bauern haben Anzeige gemacht, und er war signalisirt. Heute Nachmittag hat der Jäger Halder einen Wagen in Großdorf drüben bestellt und dann im Wirthshause so ein paar Kunststücke mit Karten, Messern und Gläsern zum Besten gegeben. Der Hollerbauer hat ihm in’s Gesicht gesagt, die könne er nur von dem Taschenspieler gelernt haben, und ist geradeswegs zum Ortsvorsteher gegangen, wo wir gerade auf Patrouille waren. Es hat sich so eins aus dem andern ergeben, gnädiger Herr, und zuletzt haben wir den Patron auch richtig hier aufgegriffen. Mein Camerad hat seine Escortirung übernommen. Er genügt auch allein, und ich muß nur hier bleiben, bis er zurückkommt und weiteren Befehl bringt. Es wäre doch am Ende möglich, daß es mit der Denunciation seine Richtigkeit hat. Das gnädige Fräulein hat eigentlich auch nicht widersprochen, und so weiß ich nicht –“

„Als ob ein Mensch noch reden könnte bei all dem Jammer und Elend,“ brummte die Alte. „Das Fräulein wird zuletzt auch noch krank davon werden.“

„Sprechen Sie von meiner Schwester?“ wandte sich Franz, dem das Gerede sonderbar ungereimt erschien, wieder an sie. „Wo ist sie?“

In diesem Augenblicke legte sich eine Hand, aus der alles Blut gewichen war, kalt, wie die des Todes, auf die seine. Er wandte sich mit einer raschen Bewegung zur Seite und sah in Hilda’s bleiches Angesicht, dessen tief ernster, schmerzlicher Ausdruck ihn seltsam ergriff.

„Du hier? Also doch hier?“ rief er. „Was ist das mit dem Kranken? Wer ist er?“

Ohne ein Wort zu erwidern, führte sie ihn an der Hand zu der hinter ihr offen gebliebenen Thür. Dort in der anstoßenden kleinen Schlafkammer stand Doctor Schöller neben dem Bette und zählte die Pulsschläge seines Patienten, den man während eines tiefen Ohnmachtanfalls schleunig auf all die hochaufgebauschten Kissen gelegt hatte.

Als Franz in das leichenhafte Gesicht sah, dessen Augen geschlossen waren und an dem keine Regung mehr Leben verrieth, da zuckte er in mächtiger Erschütterung; sein Fuß hielt an und weigerte sich, die Schwelle vollends zu überschreiten. Dann schweifte sein Blick von dem Arzte, der ihm mit leisem bedeutungsvollem Kopfschütteln begegnete, zur Schwester, und es sprach sich ein harter Vorwurf darin aus, während er die Hand mit einer heftigen Bewegung aus der ihrigen zog.

„O, sei nicht unversöhnlich in seiner letzten Stunde!“ bat sie ihn mit sanfter Mahnung.

So leise sie gesprochen, rief doch der Ton ihrer milden Stimme den Sterbenden noch einmal aus den Schatten des Todeskampfes zurück. Seine Augen öffneten sich und hingen eine Weile an des Bruders Zügen. – Ein Lächeln flog um die bleichen Lippen und ging wie ein scheidender Sonnenstrahl über das schon vom Kuß des Todes berührte Antlitz.

„Hast Du ihn gebracht, Hilda?“ fragte Wilhelm sanft und mit dem Aufwand seiner letzten Kraft. „Es ist lieb von Dir, Franz, daß Du gekommen bist. Es ist doch noch gut, Abschied zu nehmen, ehe man verreist. Und es geht diesmal weit weg – noch weiter als das erste Mal – vielleicht sehe ich da drüben die arme liebe Any wieder. Arme Kleine, es war doch zu einsam für sie allein in der andern Welt. Ja, die andere Welt, Franz – die andere Welt – – Ob die Recht haben, die da sagen – –? Aber es ist mir wirklich eine Freude, Dich noch einmal zu sehen. Fürchte Dich nicht, ich mache Dir keine Schande mehr – – ich ziehe weiter, weiter – – Der dumme Schlaukopf hat sich selbst in die Daumschrauben gebracht, und ich – ziehe dennoch weiter.“

Noch einmal flog es wie das matte Aufleuchten eines schadenfrohen Lächelns um die blutleeren Lippen, dann aber fuhr er noch viel weicher und fast unhörbar fort:

„Es hat mir immer leid gethan, daß ich Deinen Zorn erweckt hatte. Wir waren doch so gute Cameraden immer – einst – als kleine Jungen – weißt Du noch, Franz?“

„Gerade weil ich Dich –“ preßte Franz hervor – „weil ich Dich so sehr geliebt, Wilhelm,“ aber es war ihm unmöglich, weiter zu sprechen.

„Gott lohn’ es Dir – möcht’ ich sagen, aber meine Wechsel sind schlecht,“ seufzte der Sterbende mit bitterem Humor.

Er versuchte die Hand auszustrecken aber er vermochte sie kaum zu heben. Doch Franz hielt sie im nächsten Momente schon mit festem, krampfhaftem Drucke in den seinen.

„Mein lieber, armer Willi!“ sprach er zitternd, indem er sich hinabbeugte, und eine schwere Thräne rollte ihm über die braune Wange in den Bart.

Der große Versöhner, der allen Hader schlichtet und jedem Groll ein Ende macht, senkte sich langsam hernieder auf den armen Müden da in der kleinen Schlafkammer des Jägerhauses. Vor seinem Winke thun sich die verriegelten Herzen auf, und seine Berührung bringt ihnen Frieden.




11.

Auf dem erleuchteten Perron des Bahnhofes schritt Meinhard händeschüttelnd die Reihe der Bekannten auf und ab, die sich hier vereinigt hatten, um ihm das Geleite zu geben. Er hatte sich viele Freunde erworben in den langen Jahren, und so waren denn außer seinen bisherigen Untergebenen und den Angestellten der anderen Aemter auch Honoratioren und Bürger der Stadt zahlreich erschienen, um sich hier, wie das die freundliche Sitte verlangte, von dem Abreisenden noch einmal zu verabschieden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_202.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2023)