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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Goldenen Horn“ hinabsteigen, und wie geschmolzenes Blei schimmerte die glatte unbewegte Wasserfläche zu uns herauf. Drüben erhob sich wie eine dunkle Wand das Häusermeer von Stambul, und die zahllosen Kuppeln und Minarets zeichneten sich wie schwarze Silhouetten von dem kalten gelblichen Abendhimmel ab.

Wir waren im Februar. Auf der großen Perastraße, wo sonst gerade um diese Tageszeit ein buntes geräuschvolles Treiben herrscht, eilten die heimkehrenden Geschäftsleute, in Pelze und Mäntel gehüllt, fröstelnd und mit flüchtigem Gruß an einander vorüber, und die heitere Scenerie orientalischen Straßenlebens war vor dem eisigen Hauche eines ungewöhnlich strengen Winters wie mit einem Schlage verschwunden.

Während unser Wagen über das schauderhafte Pflaster von Galata und den berüchtigten Knüppeldamm der „neuen“ Brüder nicht etwa rollte, sondern geschleudert wurde, erfuhr ich von meinem Begleiter die näheren Details über das Schauspiel, das uns in Stambul erwartete, über das Moharremfest.

Zwischen Türken und Persern besteht bekanntlich ein uralter Widerstreit, der nicht nur auf der Verschiedenheit der Volksstämme, der Sitten und Gebräuche beruht, sondern vorzugsweise aus der politisch-religiösen Spaltung herzuleiten ist, welche bald nach dem Tode des Propheten die Bekenner des Islam in zwei große Parteien trennte. Den Sunniten oder Anhängern der Sunna (der Tradition), welche sich um den Thron der ersten Kalifen schaarten, standen die Parteigänger Ali’s (shy’ at Ali) oder Schiiten gegenüber, welche in diesem ihrem Führer, dem Neffen und Schwiegersohne Mohammed’s, den einzig legitimen Nachfolger des Propheten erblickten und die herrschenden Ommahjaden als Usurpatoren betrachteten.

Der Kampf, der nunmehr um die Erbfolge entbrannte, ging allmählich mit dem Hinzutreten dogmatischer Zwistigkeiten in einen Religionskrieg über, der durch mehrere Jahrhunderte von beiden Seiten mit der höchsten Erbitterung geführt wurde und schließlich mit der Unterwerfung der persisch-schiitischen Provinzen endete. Die schiitische Lehre dagegen überdauerte alle Kämpfe und Verfolgungen; sie ist noch heutigen Tages Staatsreligion des persischen Reiches. Ihr wesentlichstes Merkmal ist, daß ihre Bekenner die nahezu abgöttische Verehrung, mit welcher die orthodoxen Moslems die Person des Propheten umgeben, auf den Gründer ihrer Secte und dessen Familie übertragen. Der gewaltsame Tod Ali’s – er fiel durch Meuchelmord – namentlich aber das tragische Schicksal seiner Söhne Hussein und Hassan, welche auf der Ebene von Kerbela von einem feindlichen Streifcorps überfallen und erschlagen wurden, liefern den Stoff zu alljährlich wiederkehrenden Trauerfesten, in denen der schiitische Fanatismus stets neue Nahrung findet, und die Todtenfeier am 10. Moharrem, an deren Schauplatz wir im Begriffe standen, uns zu begeben, ist das wichtigste Fest des ganzen Jahres.

Es war bereits ziemlich dunkel geworden, als wir vor der mächtigen düsteren Steinmasse des Carawanserails anlangten, um der Darstellung des Haupt- und Schlußactes des Festes beizuwohnen. Man hatte uns schon gesagt, daß, so hoch sich auch der religiöse Fanatismus der Perser während dieser Tage steigern möge, der sich ruhig bewegende Fremde doch unbelästigt bleiben werde, und in der That, wir konnten nicht nur ruhig unseres Weges gehen, sondern wurden sogar freundlich willkommen geheißen; denn kaum waren wir in den Khan, in dessen geräumigem Hofe das Schauspiel vor sich gehen sollte, eingetreten, als sich uns ein Kovaß (Gensd’arm) der persischen Gesandtschaft näherte und, an unseren Kleidern die Fremden erkennend, uns sehr höflich bat, ihm zu folgen. Durch die Mitte des versammelten Volkes hindurch führte er uns geradeswegs zu dem Zelte des persischen Gesandten und verschaffte uns so die angenehme Gelegenheit, von dem günstigsten Standpunkte aus Alles in Augenschein nehmen zu können. Auf dem Wege dorthin mußten wir bei den Darstellern vorbei, die eben ihren Zug aufstellten.

Derselbe wurde durch eine Anzahl schwarzgekleideter Knaben eröffnet, die nach dem Commando eines älteren eine Art von Recitativ sangen. Die beiden Kleinsten unter ihnen trugen zwei große Fahnen, wie sich denn deren mehrere im Zuge befanden; aus schwarzem oder dunkelgrünem Stoffe, mit in Gold gestickten Sprüchen aus dem Koran versehen und auf dem oberen Ende der Stange eine geöffnete goldene Hand als Spitze tragend, wehten sie prächtig im Winde. Den Knaben folgten vier Handpferde, von denen die drei ersten mit schwarzen Decken behangen waren und verschiedene Schilde und Schwerter trugen; sie brachten die Schlachtrosse der Kriegsgefährten Hussein’s zur Anschauung. Das letzte der vier Pferde, ein Schimmel, stellte das Pferd Hussein’s selbst vor und war in abschreckender Weise mit Blut bedeckt – ebenso die weiße Decke desselben. Schilde, Schwerter und einige Pfeile schmückten es zu beiden Seiten, und auf seinem Rücken sah man zwei weiße, mit Blut befleckte Tauben befestigt – eine allegorische Darstellung der reinen Sache, für die Hussein kämpfte und fiel. Neben diesen Pferden aber wurden zwei hohe Stangen getragen, von denen in reicher Fülle kostbare Cachemirshawls herabflatterten. Den Pferden folgten acht Männer mit einer Art Sänfte in der Form eines Sarkophages; sie war mit kostbaren Teppichen bedeckt und vorn und an den Seiten mit ovalen Schilden geschmückt, die mit kostbaren Edelsteinen besetzt waren, oben auf der Sänfte aber lag ein Turban, der den Kopfputz Hussein’s darstellte. Ein prächtiges Bild, diese Gruppe der Pferde und der Sänfte, um so prächtiger, als eine Schaar reichgekleideter Perser, die theils Fahnen, theils Wachslichter in kostbaren Glasleuchtern trugen, sie würdevoll umgab!

An das Prachtvolle aber reihte sich nun das Unschöne: eine große Zahl von Männern, die sämmtlich die linke Schulter und die Brust entblößt hatten und in gleichmäßigem Tacte mit voller Kraft diese nackten Körpertheile heftig schlugen. Dabei begleiteten sie mit einer Art rhythmischen Gesanges eine melancholische Stimme, welche aus ihrer Mitte laut hervortönte.

Dann folgte eine Schaar Personen mit ganz entblößtem Oberkörper, die nur um den Kopf und um die Hüften ein schwarzes Tuch geschlungen hatten. In der Hand trugen sie eine Art Geißel, die aus einem kurzen Stiele mit angehängten eisernen Ketten bestand.

Endlich bildeten den Schluß des Zuges zwei lange Reihen wild aussehender Männer, sämmtlich in lange weiße Gewänder gekleidet und den nach persischer Sitte ganz kahl geschorenen Kopf entblößt. Jeder von ihnen trug in der rechten Hand ein scharfes Schwert und hatte mit der linken den Gürtel seines Nebenmannes von rückwärts erfaßt. Sie stellten die zweiundsiebenzig sogenannten Märtyrer vor, welche den jungen Hussein begleitet und bei seiner Vertheidigung den Tod gefunden hatten.

Was ich in dem Zuge vermißte, war die Darstellung der dem Hussein feindlichen Soldaten des Kalifen Jezid. Man belehrte mich jedoch, daß es selbst in Persien sehr schwer halte, die nöthigen Darsteller dazu zu gewinnen, da bei dem Anblicke des Schauspieles die bis auf das Höchste gesteigerte religiöse Wuth des versammelten Volkes sich gewöhnlich gegen diese Soldaten des Jezid kehre. Russische Kriegsgefangene, die man einmal in Teheran dazu gezwungen hatte, diese Rolle zu übernehmen, mußten so schnell wie möglich die Flucht ergreifen, um ihr Leben vor den scharfen Hieben und dem Steinhagel zu retten, mit dem die erregte Menge diese unglücklichen Schauspieler überschüttete. Auch die Darstellung der Leichname der Märtyrer, wie sie in Teheran stattfindet, fehlte hier, da gewöhnlich mehrere Menschen dabei ihr Leben einbüßen. In Teheran gräbt man, um die enthaupteten Leiber der Hussein’schen Schaar zu veranschaulichen, eine Zahl Personen bis an den Hals in die Erde und legt dann eine ebenso große Zahl anderer Personen, von denen man die Köpfe geschickt verbirgt, so neben diese aus der Erde hervorragenden Häupter, daß es aussieht, als habe man eine Reihe enthaupteter Cadaver vor sich – ein schreckliches Bild!

Doch nicht lange war uns Zeit zum Betrachten des sich aufstellenden Zuges geblieben; unser Führer drängte, und wenige Augenblicke später befanden wir uns vor dem Zelte des persischen Gesandten. Dasselbe war mit Gewändern ganz schwarz ausgeschlagen und mit zahlreichen Gaskronleuchtern und vielen Lichtern feierlich erhellt.

Wir fanden in dem Zelte bereits eine kleine Zahl Europäer versammelt, und auf die liebenswürdigste Art wurde uns dort von der Gesandtschaft Thee und Tabak angeboten und Alles gethan, um uns die Betrachtung des zu erwartenden Schauspiels so bequem wie möglich zu machen. Die Zeit, die uns bis zum Beginn desselben verblieb, verfloß rasch in der Anschauung des bunten wechselvollen Bildes, das die zu Tausenden versammelte Menge darbot. Aus allen Theilen des weiten Orients schien sie zusammengeströmt zu sein, um dem staunenden Fremden den Anblick einer wahrhaft reichhaltigen Musterkarte der verschiedenartigsten Völkertypen und der verschiedensten Trachten zu gewähren.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_206.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2023)