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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

(etwas mehr als eine Mark) in England! Ja, es ist eine schlimme Lage, in der sich die deutschen Musiklehrer in England befinden, und diese Lage wird immer schlimmer. Alles, was in Deutschland Elfenbeintasten gefühlt hat, bietet sich dort als Lehrer im Spielen und Singen an, aber es ist ein Irrthum zu glauben, die Engländer seien noch immer so unmusikalisch, daß jeder musikalische Deutsche hier sofort eine gut bezahlte Stellung fände. Langsam vollzieht sich eine wichtige Aenderung. Die Engländer studiren mit großem Eifer Musik; in zehn bis fünfzehn Jahren wird das Land seinen Bedarf an Musiklehrern ganz decken, und der dilettantische deutsche Musiklehrer nur noch ein Dasein in den alten Jahrgängen des Punch führen, in denen er jetzt eine beliebte Figur ist.

Besonders praktisch haben sich dagegen in England die deutschen Kellner organisirt! Dieselben finden hier je einen Zweig der zwei großen über Mitteleuropa verbreiteten Kellnervereine vor, nämlich die Section des „Deutschen Kellnerbundes“ und die des „Genfer Vereins der Hôtelangestellten“. Das Centralbureau des ersteren befindet sich in Leipzig, das des zweiten in Genf, und beide bezwecken Hebung des Kellnerstandes, Stellenvermittelung, Gründung einer Kranken- und Unterstützungscasse. Der Genfer Verein beschreitet mehr die Wege eines Gewerkvereins. Er hat sein Bureau Charlotte Street 107 W. und der deutsche Kellnerbund 36 Clipstone Street W. Ein solcher Verein ermöglicht einen regen, geselligen Verkehr zwischen den Mitgliedern. Die Häuser, in welchen sich die Bureaus befinden, enthalten je einen kleinen Gasthof, in welchem Mitglieder gegen geringes Entgelt Unterkunft finden, und trotz dieser Organisation haben die Vereine einen über den Bedarf starken Zufluß ihrer Mitglieder nicht verhindern können.

Die Deutschen halten England noch immer für ein Eldorado, in dem es ihnen glücken müsse. Aber mehr als die Hälfte aller Einwanderer leidet Schiffbruch und muß sich glücklich schätzen, wenn sie nicht moralisch verkommt. Alle, Kaufleute, Handwerker, Dienstboten, Erzieher und Erzieherinnen, müssen dringend vor einer Uebersiedlung nach England gewarnt werden. In jedem Erwerbszweige ist Ueberfluß an Deutschen vorhanden, und ihre erbitterte Concurrenz unter einander bewirkt ein stetiges Sinken des Lohnes. Es herrscht unter vielen die größte Noth und ein unbeschreibliches Elend.

So verdienen denn alle Berichte in deutschen Zeitungen, deren Verfasser entweder aus gewinnsüchtiger Absicht oder aus übel angebrachtem Patriotismus die Verhältnisse unserer Landsleute so glänzend wie möglich darstellen, das größte Mißtrauen, und es ist nicht zuviel gesagt, wenn behauptet wird, daß jeder, welcher, um dem deutschen Nationalgefühl zu schmeicheln, irrige Angaben über die Lage der Deutschen in England verbreitet, sich zum Mitschuldigen an den bitteren Enttäuschungen, den pecuniären Verlusten und dem moralischen Ruin einwandernder Landsleute macht.[1]

Nur wenige Deutsche gelangen in England zu Wohlstand und Reichthum, und diese Wenigen bleiben gewöhnlich im Lande. Es wird also auf diese Weise kein großes Capital von England nach Deutschland getragen.

Weshalb die Deutschen, wie dies von den Engländern gefordert wird, ganz besonders dankbar für ihre Aufnahme in Albion sein sollten, ist uns wirklich unverständlich. Denn was man ihnen giebt, ist in den meisten Fällen der Lohn, den sie für harte Arbeit reichlich verdient haben. Die Engländer sollten im Gegentheil dankbar dafür sein, daß sie die deutsche Arbeit so billig kaufen können.

Eines will ich zum Schluß hier nicht unerwähnt lassen, weil es charakteristisch für die Sache ist: Man will uns verwehren, unser Urtheil über England abzugeben – das ist eines der zahlreichen Beispiele englischer Inconsequenz. Die Waare des Arbeiters ist seine Arbeit. Verkauft er an den Unternehmer außer dieser Waare etwa auch sein Urtheil, seinen Verstand, seine Meinung? Unsere Vettern haben uns ein Beispiel gegeben, welches augenscheinlich seine Früchte trägt! Ueber jedes Land, in welches der Britte seinen Fuß setzt, sitzt er gewöhnlich mit viel Unkenntniß und von ausschließlich englischem Gesichtspunkte zu Gericht, aber kein Land hat er seit zehn Jahren mit solcher Vorliebe zur Zielscheibe beleidigender Sottisen gemacht, wie Deutschland. Und nun verlangt er von uns Dankbarkeit, Wohlwollen und Schmeichelei?!

Möge es mir nun nach der möglichst objectiven Darstellung der Lage unserer Landsleute in England vergönnt sein, hier zwei Ziele für künftige Thätigkeit kurz zu bezeichnen! Energische und praktische Männer werden trotz der mannigfachen Schwierigkeiten zwei Vereine in’s Leben rufen können: einen Rechtsschutzverein und einen Vorschußverein. Die englischen Gerichtskosten sind hoch, und die Kenntniß des englischen Rechts unter unseren Landsleuten ist gering. Von welch unberechenbaren Segen würde sich da ein Verein erweisen, an den sie sich in Fällen der Rechtsverletzung wenden könnten! Und gleiche Bedeutung würde ein Vorschußverein behaupten, welcher unsere Landsleute in Nothlagen, in welche sie unverschuldet gerathen sind und in welchen sie sich, fern von der Heimath, nicht zu helfen wissen, mit einem verzinslichen Darlehen unterstützte. Er würde manches schwache Gemüth vor übermächtigen Versuchungen und manchen stolzen Charakter vor Entblößungen bewahren, welche nicht nur die Kraft seines Körpers untergraben, sondern oft die Gesundheit seiner Seele in Mitleidenschaft ziehen. Möchte deutsche Intelligenz und deutsche Thatkraft nach diesen beiden Seiten hin zum Heil Deutschlands in England heute lieber als morgen eintreten!


  1. Wie groß die bekannte Noth unter den Deutschen in England ist, wird man folgenden Angaben entnehmen. Die Unterstützungen, welche im ganzen Lande von den deutschen Pfarreien gespendet werden, rechne ich nicht. Das General-Consulat unterstützte vom 1. November 1880 bis zum 1. November 1881 1188 Personen und spedirte 36 Personen in die Heimath zurück. Die „Deutsche Gesellschaft der Wohlthätigkeit und Eintracht“, welche unter der energischen Leitung Herrn Karl Tuchmann’s steht, vertheilte im Jahre 1880 an 1477 Personen etwa 630 Pfund Sterling, gleich 13,000 Mark. Außerdem bezahlte sie an 14 Pensionäre 71 Pfund Sterling 10 Schilling. Die „Gesellschaft der Freunde nothleidender Fremden“ ließ in demselben Jahre an 2300 Deutsche Almosen austheilen. In dem deutschen Hospital zu Dalston fanden im Jahre 1880 nicht weniger als 758 Personen Aufnahme.




Die sicilianische Vesper.

Auch ein „Jubiläum“.


Fürwahr, es ist eine eigene Sache um die Lehre von der dereinstigen Verbrüderung der Nationen, um das Dogma vom „goldenen Zeitalter des ewigen Völkerfrühlings“, wie das Ding von den rechtgläubigen Bekennern einer politisch-optimistischen Weltanschauung officiell benamst wird. Es giebt nämlich Leute, die nicht recht daran glauben mögen, Leute, die es vielmehr umgekehrt bedünken will, als stünde aller Humanität zum Trotz unsere alte Erde leider noch auf lange hinaus im verhängnißvollen Zeichen des Mars. Und was beinahe noch schlimmer: selbst mitten im formellen Friedensstande treten von Zeit zu Zeit Symptome hervor, sehr unzweifelhafte Symptome, welche die Verwirklichung jenes schönen Traumes einstweilen als in unabsehbare Ferne gerückt erscheinen lassen.

So z. B. an dem bevorstehenden fröhlichen Osterfeste des gegenwärtigen Jahres. Ein wahres Glück, daß Meister Elihu Burritt, der bekannte amerikanische Hufschmied und Friedensapostel, vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Lebte der Mann heute noch, er würde wahrscheinlich die Augenbrauen bedenklich emporziehen und sich baß verwundern ob der Dinge, die gegenwärtig dort unten im europäischen Süden sich zutragen. Denn im Augenblick, da wir dies schreiben, rüsten sich gewisse politische Kreise Italiens, besonders Siciliens, mit Paukenschlag und Posaunenton den sechshundertjährigen Gedenktag jener ingrimmig blutigen Metzelei feierlich zu begehen, die in den Jahrbüchern der italienischen Geschichte unter der Bezeichnung der „Sicilianischen Vesper“ eingetragen steht. Da dieses Ereigniß zwar nicht der äußern Veranlassung, wohl aber dem tiefern Grunde nach mit der mittelalterlichen Geschichte unseres deutschen Vaterlandes, speciell mit dem glorreich-tragischen Abschnitt der Hohenstauferzeit im Zusammenhange steht, so wird es kaum einer näheren Motivirung bedürfen, wenn auch wir heute einem historischen Factum, das über Jahrhunderte hinaus seine Wellen schlug und welches noch gegenwärtig im Gedächtnisse des italienischen Volkes lebendig fortwirkt, eine kurze Betrachtung nicht versagen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_210.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2023)