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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 14.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.


1.

Im Walde vor dem Forsthause saß ein städtisch elegant gekleideter Mann mit schönen, geistig belebten und wie von Gedankenarbeit verfeinerten Zügen. Auf der Bank, welche zwischen den Linden vor dem Forsthause stand, zurückgelehnt, sah er nachdenklichen Blicks in den Wald hinein, der eigenthümlich still war. Es war die Zeit, in welcher der Sommer in den Herbst übergeht, das Vogelvolk seine kleinen Familienpflichten erfüllt und die dabei entwickelte Aufregung ein Ende genommen hat. Kein Vogel sang im Walde; kein Ruf schallte heraus. Selbst die Schwalben zwitscherten nicht, die in schwindelerregender Rastlosigkeit auf dem freien Anger vor dem Hause hin- und herschossen.

„Welch ein seltsames Thier solch eine Schwalbe ist!“ sagte der junge Mann, als ein älterer, eine hochgewachsene stattliche Gestalt mit ergrauendem Vollbart und in der Jägerjoppe, aus dem Hause auf die Schwelle trat, – „welch seltsames Thier, das auf allen Idealismus des glücklichen Vogeldaseins verzichtet! Die neidenswerthe Zaubergabe der Flugkraft, welche von den anderen Vögeln zu freiem und ungebundenem Schwunge ausgebeutet wird, dient diesen gehetzten Geschöpfen nur zum rastlosen, unausgesetzten, nervös machenden Hin- und Herschießen von der ersten Morgenstunde bis zum Abend, von ihrem ersten Ausfliegen aus dem Nest bis zu ihrem Tode. Der Flug ist für sie ein Fluch geworden, der sie peitscht.“

„Nun ja,“ sagte der Förster; „wie so manches Lebewesen in der Zeit, wo es eine noch unentwickelte Art war, wie Ihr Naturforscher es nennt, sich darauf capricirte, in seiner Entwickelung just zu dem zu werden, was es heute ist – das begreife Einer! Zu solch einem hülflosen Sclaven seiner Natur! Weshalb hat sich solch ein armer Teufel von Hirsch in seinem Kampfe um’s Dasein das abscheulich schwere, in jedem Walddickicht für ihn verhängnißvolle Geweih aus seinem Schädel wachsen lassen? Und der arme wehrlose Hase, weshalb hat er es nicht dem klugen Igel nachgemacht und sich einen Stachelpanzer über die Ohren gezogen?“

„Weshalb?“ versetzte lächelnd der junge Mann. „Entwickeln die Menschen selber nicht auch so ihre Natur, ohne die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie sich damit dem Kampfe um’s Dasein adaptiren oder nicht? Hast Du nicht Leute gesehen, die sich einen Stolz auf dem Kopfe wachsen ließen, der ihnen viel hinderlicher war, durch’s Leben zu kommen, als es dem Hirsch sein Geweih ist, um durch den Wald zu schweifen? Und was die Hasen angeht – nimm unsern alten Baron! Weshalb ist er ein solcher wehrloser Hase und nicht statt dessen ein stachliger Igel geworden, der die Hunde, die auf ihn Jagd machen wollen, in Respect zu halten weiß?“

„Du hast Recht,“ antwortete lachend der Förster. „Ich hätte Dich alsdann nicht aus der Stadt kommen zu lassen brauchen, damit Du Dich des alten Mannes annehmen könntest. Unser Quacksalber von Dorfarzt als Doctor, und dazu Damen, wie Du sie kennen lernen wirst, als Pflegerinnen – sie bringen den alten Herrn um. Es ging nicht anders; ich mußte Dich herkommen lassen, damit Du mit Deiner Autorität dazwischen fahren kannst; der alte Herr willigte ja endlich auch ein, daß ich Dich zu kommen bitte. So mußtest Du denn heran, obwohl es Dir schwer geworden sein mag, Dich aus Deiner Thätigkeit loszureißen.“

Während dieser Unterredung hatten sich beide Männer in Bewegung gesetzt und schritten nun langsam den Anger vor dem Hause hinab, in eine Eichen-Allee hinein, welche westwärts in den Wald führte.

„Es ward mir schwer, Vater,“ versetzte der jüngere Mann, „aber ich bin dennoch gern gekommen; von meiner anstrengenden Thätigkeit sind meine Nerven angegriffen, und wo giebt es eine bessere Erholung dafür, als hier im väterlichen Hause, in den Räumen, in denen ich aufwuchs, an denen alle meine liebsten Lebenserinnerungen haften; unter Deinen alten Bäumen, von denen ich mir als Kind einbildete, Du habest sie alle gepflanzt, und nur die Bäume, welche Du pflanztest, würden so groß.“

„Es ist hübsch von Dir, Leonhard,“ sagte der Förster mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit, seine Hand auf die Schulter seines Sohnes legend, „es ist hübsch von Dir, daß Du an dem alten Hause hängst, obwohl Du in der Stadt ein vornehmer Mann geworden bist, der persische Teppiche und sammetne Portièren in seinem Empfangszimmer hat – bei uns, weißt Du, giebt’s nur tannene Dielen – zur Freude der Mutter, die Mittwochs und Sonnabends ihre Schrubbewuth daran auslassen kann.“

„Die gute Mutter!“ antwortete der junge Arzt. „Und um des alten Herrn willen hättest Du mich immerhin schon früher herbeiholen sollen. Der Mann hat ein Recht auf uns. Die Klingholt und die Dortenbach gehören seit Urvätertagen zusammen, und – wer weiß das besser als Du? – wenn die eine auch die Herren- und die andere die Dienerfamilie ist, so haben sie einander doch Hülfe und Beistand mit Rath und That genug im Laufe der Jahre und in böser wie guter Zeit geleistet, um auf einander bauen zu dürfen.“

„Ja, ja, in guten und in bösen Zeiten,“ sagte seufzend der Förster, „und böse Zeiten hängen ja einmal wieder drohend über uns. Wenn der alte Herr das Zeitliche segnen sollte, so steh’ uns Gott bei! Diese Verwandten, die sich da oben eingenistet haben, diese liebevolle süßredende Erbschleicherbande, was werden sie, wenn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_221.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2021)