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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Diese naturwüchsige Unbekümmertheit ist überhaupt ein charakteristischer Zug jener paradiesischen Gegenden, und nur zu oft wandte sich mein von der Cultur und ihrem Schicklichkeitscodex dressirter Blick verlegen ab und einer andern Richtung zu, um dann freilich nicht selten von der Scylla in die Charybdis zu gerathen. Manch liebes Mal lehnte ich aber auch, unbehelligt von solchen Scrupeln, an den Thürpfosten und blickte in die erleuchteten Flure und Werkstätten mit ihrem munteren Treiben und den scharf abgegrenzten Figuren, die – mit allerlei fremdartigen Apparaten hantirend – sich in ihnen herumbewegten.

Ueberhaupt herrschte unerachtet der späten Abendstunde noch reges Treiben in der Stadt. Dunkle Gestalten huschten an mir vorüber, mich manchmal hart streifend und mit ziemlich drohenden Mienen musternd, dabei in dem ungewissen Licht, das aus den erleuchteten Häusern fiel, so spitzbübische Physiognomien aufweisend, daß die Hand mehr denn einmal zum Säbel griff und ihn unwillkürlich in der Scheide lockerte. Aber auch sanfte, schöne Augen lugten unter dem übergeworfenen Kopftuche verstohlen nach dem Fremden, und gazellenleichte Tritte veranlaßten mich, den Kopf zu wenden und den schlanken Mädchengestalten nachzublicken.

Mehr denn je lernte ich an diesem Abende des bekannten Bagdader Kalifen Leidenschaft begreifen, nächtlich herumzuschweifen und seine Allerhöchste Nase in Alles zu stecken.

Noch öfter hätte ich wohl diesen neu erwachten Harun al Raschids-Neigungen gefröhnt, wenn meine Unternehmungslust nicht in andere Bahnen gelenkt worden wäre. Ich hatte nämlich die Bekanntschaft eines Mr. W…, eines gleich mir passionirten Nimrods gemacht, und durch ihn wurde es mir ermöglicht, den Traum meines Jägerherzens zu verwirklichen und eines Tages nach den Dschungeln zur heißersehnten Tigerjagd aufzubrechen.

Wie Amerika und Afrika seine Urwälder, so hat Indien seine Dschungeln. Sie sind das Product eines überaus ergiebigen und fruchtbaren Bodens und der großen Feuchtigkeit jener Gegenden, welche zusammen eine Vegetation erzeugen, so üppig, so großartig, wie man sie ähnlich kaum anderswo antreffen dürfte. Man ist aber im Irrthum, wenn man annimmt, daß die Dschungel nur auf sumpfigem Boden gedeihe. Sümpfe und Wasserlachen giebt es in ihnen allerdings, mehr vielleicht sogar als in anderen Wäldern, aber ebenso oft mächtige Strecken trocknen Bodens und sogar recht ausgedörrter Erde. Das eigentlich Charakteristische an ihnen sind die dicken, durch Unterholz und Schlingpflanzen zu fast undurchdringlichen Mauern verwachsenen Dickichte und das übermannshohe Gras, das die lichten Stellen überwuchert.

Auf diese Lichtungen tritt Morgens und Abends das Wild zur Aesung heraus, und hier sind die gegebenen Punkte, ihm auf dem Anstand aufzulauern. Wer nun die Gegenden und ihre vierfüßigen Bewohner kennt, wird sich zu diesem Behufe nicht sorglos auf ebener Erde aufstellen, sondern er baut sich schon vorher auf einem mittelhohen Baume, maskirt durch grüne Zweige, ein Nest, eine sogenannte „Kanzel“, um von ihr aus zu operiren und sich nicht ungedeckt dem tödtlichen Sprunge wilder Bestien auszusetzen.

Von Tigern zumal, und zwar von solchen der stärksten und bösartigsten Sorte, wimmelte damals Singapore. Theils eingeboren, theils von Malakka herüberschwimmend, überflutheten sie die Insel und machten sie im höchsten Grade unsicher. Bis in die Straßen der Vorstädte selber wagten sich die hungrigen Ungethüme, und erst kurz zuvor war es einem derselben gelungen, sich ebendort den mittelsten von drei auf einem offenen Gefährt sitzenden Kulis herunterzuholen und fortzuschleppen. Man berechnet die Opfer dieser Bestien jährlich auf fünfhundert Menschen, und es waren besonders die in den Dschungeln arbeitenden Chinesen, die den ersten Anprall auszuhalten hatten und nahezu decimirt wurden. Diese betriebsamen Leutchen, die es unternommen, den Boden durch Ausroden des Gestrüpps und Anlage von Kaffee- und Tabakplantagen immer mehr zu cultiviren, bildeten unter sich Gesellschaften von je zwanzig bis dreißig Mann, die unter einem selbstgewählten Oberhaupte, dem sogenannten „headman“, standen und wirklich Anerkennenswerthes in der Urbarmachung des Landes leisteten. Je mehr die Tiger nun aber unter ihnen aufräumten, und je fragwürdiger mithin das Lohnende ihrer mühseligen Arbeit wurde, desto mehr mußte es sich die Regierung angelegen sein lassen, eine Abhülfe zu schaffen. Es wurden denn auch namhafte Prämien, bis zu hundert Rupien (zweihundert Mark) auf die Tödtung eines Tigers gesetzt, aber ohne sonderlichen Erfolg. Auch das Auskunftsmittel, das gefährliche Raubzeug in tiefen, mit grünem Buschwerk überdeckten Gruben zu fangen, erwies sich als unzureichend. Endlich wurden sogenannte „Tigerstationen“ errichtet und mit je vier bis sechs Mann, meistens Malayen, die geneigt waren, neben ihrem Tagelohne noch die Prämie zu verdienen, aber auch nicht anstanden, ihr Leben dagegen einzusetzen, belegt. Diesen Stationisten fiel die Aufgabe zu, die Erlegung der Bestien gewissermaßen systematisch zu betreiben.

Mr. W. und ich langten denn am Nachmittage eines glühenden Tages nach beschwerlichem Marsche durch die Dschungeln bei der Station, wo die meisten der von Malakka herüberschwimmenden Thiere landen sollten, an. Das Glück wollte uns wohl. In „Old Sam“ lernten wir einen ziemlich intelligenten braunen Malayen kennen, und der alte Stationist erfreute unsere Herzen sofort mit der Nachricht, daß er in der Nähe die Spuren eines starken Tigers gefunden und daß, obgleich diese Thiere einen bestimmten Wechsel nicht einzuhalten pflegten, doch mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten sei, derselbe würde den Platz auch in heutiger Nacht aufsuchen. Wir begaben uns natürlich sofort nach der bezeichneten Stelle und fanden dieselbe, eine kleine, von einzelnen Bäumen bestandene Lichtung, zu unserem Zwecke wie geschaffen. Von drei Seiten umgab den Platz dichtes Bambus- und Dornengebüsch; die vierte war von einer steil in die Höhe steigenden Felswand abgeschlossen, und dicht unterhalb dieser strebten, hart neben einander, die beiden Bäume, die wir ausersahen, um uns in ihren Zweigen die bergenden Nester zu bauen, empor.

Nachdem alle nöthigen Vorbereitungen getroffen, verfügten wir uns zur Stationshütte zurück, um uns durch einen kurzen Schlaf zur bevorstehenden Nachtwache zu stärken. Meine „tigergewohnten“ Gefährten schnarchten denn auch bald um die Wette, während ich, der Neuling, mich fieberhaft erregt umherwälzte.

Da aber in jenen Gegenden die Sonne schon kurz vor oder nach sechs Uhr untergeht und dann sofort, ohne jede vermittelnde Dämmerung, tiefe Finsterniß eintritt, sollte meine Geduld nicht auf eine zu harte Probe gestellt werden; bald nach fünf Uhr brachen wir bereits wieder nach der Lichtung auf. Begleitet waren wir von Sam und einer Ziege, die als mitleiderweckendes Lockungsmittel für die Tiger dienen sollte.

An Ort und Stelle angekommen, banden wir die arme Geis inmitten des Platzes und im Bereich unserer Schußwaffen an einen Pfahl, warfen ihr noch ein Bündel duftender Kräuter, ihre Henkersmahlzeit, vor, und dann bestiegen Mr. W… den einen, Sam und ich den andern Baum; wir richteten uns auf ihnen, so gut es gehen wollte, für die Nachtwache ein.

Und tiefer und tiefer sank die Sonne; schwächer und schwächer tönte das Rauschen der Seebrise; die Dunkelheit und mit ihr lautlose Stille trat ein. Doch nicht auf lange! Von Osten her goß bald ein anderer silberner Schein sein magisches Licht über die Gegend. Der Mond ging auf und – langsam emporsteigend und immer andere Schatten erzeugend – schuf und webte er wundersame Wahngebilde. Bald erschien die seltsam beleuchtete Scene dem getäuschten Auge als ein herrlicher Park, mit Marmorstatuen und Cascaden geschmückt, bald als mächtige Stadt mit Thürmen, Kuppeln und Palästen, bald als wilde Felspartie mit starren, bizarren Steinmassen, immer aber phantastisch lockend und reizend. Und mit dem heller fluthenden Lichte erwachte auch das nächtliche Leben der Wildniß. Das eintönige Summen und Surren der Musquitos ließ sich mehr und mehr vernehmen; ab und zu wurde es unterbrochen von dem Schrei des Eisvogels, dessen Ruf täuschend dem Ton eines über dünne Eisfläche gleitenden Steines ähnelt; zwischendurch erhob der wilde Pfau seine schrille Stimme, oder riefen sich Eulen und Käuze ihr unheimliches Losungswort zu, und schwirrend und sausend streifte die wunderliche Gestalt des fliegenden Hundes die leise unter seinem Flügelschlag erschauernden Blätter.

Wie gebannt saß ich und lauschte dem geheimnißvollen Weben der Nacht – da – plötzlich bewegte es sich im Dickicht. Die Ziege schrak zusammen und stieß ein leises, ängstliches Meckern aus, dabei scheu den Kopf nach der verdächtigen Richtung wendend. Unsere Finger flogen an die Drücker der Büchsen. Eine Pause athemloser Erwartung, während welcher ich das Klopfen meines Herzens zu hören glaubte, dann wieder und verstärkter das Geräusch brechender Zweige – ein jähes Auffahren der gefesselten Ziege, ihr todesängstlicher Aufschrei, ihre vergeblichen Fluchtversuche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_266.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)