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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 17.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Sergius von Sander?“ fragte Leonhard.

„Ja,“ erwiderte Regine, „der intelligente, Alles wissende, Alles entscheidende Sergius. Dieser Sergius ist eigentlich ein innerlich unglücklicher und bedauernswerther Mensch; er schleppt eine Aufgabe durch’s Leben, welche ihm jeden Augenblick zu schwer zu werden droht: die Aufgabe, die Welt und sich selber in der Annahme und dem Glauben zu erhalten, er sei etwas Außerordentliches. Wer oder was diesen Wahn erzeugt haben mag, wer kann das wissen? Vielleicht die gnädige Frau Mama – der ‚Mütterwahnsinn‘ leistet ja Unglaubliches; und genug, der Wahn ist einmal da und will nun erhalten, will genährt, gepflegt sein – und das kostet den armen Sergius mitleidswürdige Anstrengungen. Er ist genöthigt, bei jeder aufgeworfenen Frage mit einer genialen Wendung das letzte Wort zu sprechen; nöthigenfalls auch durch eine staunenswerthe Herzählung von statistischen Zahlen, durch ein Auskramen von philosophischer Weisheit aus Büchern, welche Niemand liest, zu belehren, zu entscheiden, zu imponiren. Und ist das nicht eine schreckliche Aufgabe? Auch wenn man, wie Sergius, sich die Sache dadurch erleichtert, daß man die statistischen Zahlen aus seiner Phantasie nimmt, die genialen Wendungen aus Leitartikeln in den Journalen?“

„Aber wie viele Menschen,“ sagte lächelnd Leonhard, „wissen nicht so zu imponiren!“

„Anderen – ihrer Umgebung, ja! Aber Sergius ist in einer übleren Lage. Er zweifelt innerlich selber an seiner Außerordentlichkeit. Er ist ihrer nicht so ganz sicher. Es muß in seinem Leben Momente gegeben haben, die ihm das Dogma von seiner Genialität unter einer bedenklichen Beleuchtung gezeigt haben – und so ist der arme Mensch zu fortwährenden krampfhaften Anstrengungen gezwungen worden, um sich vor dem Unglauben an sich selber zu retten, sich selber sein Genie zu beweisen.“

„Und Damian?“ fragte Leonhard.

„Damian,“ gab sie lachend zur Antwort, „Damian ist einfach ein hohler Kopf; das ist auch gut; denn mit starken Lebenstrieben erfüllt, würde dieses Menschenkind vielleicht gefährlich sein, weil weder die gütige Mutter Natur noch die gütige Mutter von Ramsfeld einen erheblichen Keim sittlicher Grundsätze in ihn gelegt haben. Ist aber Damian hohl, so ist seine hübsche Schwester Dora dafür nur zu voll; ihr Herz ist voll von irgend einem Liebeskummer, vom Bilde irgend eines liebenswürdigen Jünglings, der es ihr angethan haben muß –“

„Sie glauben, das kleine Fräulein litte an einer ernsten Neigung?“ fragte Leonhard gespannt.

„So viel man’s kann in ihren Jahren,“ antwortete Regine; „jetzt lassen wir aber diese Gesellschaft ungerupft! Sie könnten mich sonst verführen, Ihnen auch noch die Mütter zu schildern und den Glauben in Ihnen zu erwecken, ich sei die böseste Zunge von der Welt. Und das bin ich doch nicht – nicht wahr, Leonhard, Sie wissen, daß ich das nicht bin, wissen, weshalb ich hier scharf sehe, scharf urtheile?“

Leonhard antwortete nur, indem er Reginens Arm an sich drückte.

„Sie schlauer Leonhard!“ fuhr sie lächelnd fort, „Sie sind so unendlich klug gewesen, indem Sie mich bewegten, hierher zu gehen, mich auf Haus Dortenbach einzuwohnen und in den alten Herrn zu verlieben – und doch – haben Sie nie davon eine Ahnung gehabt? – war es schrecklich unbesonnen und verkehrt von Ihnen, mich inmitten dieses Kreises von adligen Leuten zu versetzen. Sagen Sie sich denn nicht, daß ich an jedem Abend Gott danken muß, nicht dazu zu gehören? Daß ich lieber bis in die Sahara liefe, als mich von der Generalin als theure Cousine umarmen, von Damian und Sergius, den lieben Vettern, bevormunden zu lassen –“

„Sie zu bevormunden würde man wohl keinen Versuch machen, Regine; Ihr Wesen hat wenig, was dazu einladet, und daß Ihr Adelshaß hier eine ganz ungesunde Nahrung finden werde, habe ich freilich besorgt; aber was war da zu thun – es galt, dem alten Herrn zu Hülfe zu kommen. Das war das Wesentliche –“

„Nun ja, Sie sehen mich ja auch hier,“ versetzte sie, sich zärtlich auf seinen Arm legend; „ich bin ein gutes Kind gewesen und gekommen –“

„Das sind Sie, und – aber wohin gehen wir?“

„Folgen Sie mir hierher! Ich sagte, daß ich Ihnen etwas zeigen wollte,“ erwiderte sie, indem sie, jetzt in der Nähe des Hauses angekommen, rechts ab und in den Wald, der hier mit den Anlagen hinter dem Hause zusammenlief, einbog.

Sie gingen unter alten Buchenstämmen hin, über Moos und vorjähriges Laub, und folgten dann einem Fahrwege, der jenseits der breiten, jetzt im Sommer mit einem schlammigen Wasser gefüllten Gräben in jene Anlagen hinter dem Edelhofe führte.

Als sie das Ende des ersten Grabens erreicht hatten, da, wo

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_273.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)