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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

er nach links hin im rechten Winkel einsprang und sich der Rückseite des Hauses parallel weiter zog, blieb Regine stehen; das hellere grüne Wasser deutete hier auf eine größere Tiefe; es wurde beschattet von einer nahe stehenden alten Hänge-Esche, welche ihre Zweige über die grasbewachsene Böschung niederhängen ließ.

„Sehen Sie, Leonhard,“ sagte sie, auf das stille Gewässer deutend, „da, da war es. Diese alte Esche hat es mit angesehen. Sie hat gesehen, wie ein armes gequältes, zermartertes Menschenkind Ruhe in der dunklen, eisigen Tiefe suchte; wie sie in den Tod ging, getrieben von denen, welche ihr im Leben am nächsten standen, von Vater, Bruder, Schwestern. Und dieses arme gequälte Menschenkind war meine Mutter. Ich, ich soll das vergessen? Soll es vergeben? Ich müßte härter als dieser bemooste alte Baumstamm, fühlloser als der Schlamm dort unten sein, wenn ich’s thäte. Nein – nie!“

Regine hatte das mit zitternder Lippe gesprochen, bleich vor tiefer Erschütterung, bis bei dem zornigen „Nie“ ihr leuchtendes Auge sich mit einem Glanze auf Leonhard heftete, der diesen verstummen ließ. Er ergriff nur ihre sich wie zu einem Schwur hebende Hand und küßte diese wie in stummer Unterwerfung.

„Wer nur hat Ihnen die unglückselige Stelle gezeigt?“ fragte er, sie wegführend, nach einer Pause, und dann, als sie keine Auskunft gab:

„Sie sollten aber auch nicht vergessen, Regine, daß Ihr Oheim keine Schuld trägt, daß er an all der leidenschaftlichen Verfolgung, der einst Ihre Mutter ausgesetzt war, nicht Theil nahm.“

„Keine Schuld? Er hat die größte Schuld. Die Anderen waren von ihren Vorurtheilen, ihrem Adelsdünkel, ihrem leidenschaftlichen Hochmuth verblendet. Er nährte diese Vorurtheile nicht; in ihm war nichts von dieser verblendenden, hirntollen Leidenschaft der Anderen – er sah ein, er mußte einsehen, wie abscheulich sie handelten – und doch schützte er die Schwester nicht, doch stellte er sich nicht rettend vor sie – aus erbärmlicher Schwäche, aus verachtenswürdiger Feigheit nicht. Macht ihn das nicht noch schuldiger, als die Seinigen waren?“

„Freilich,“ antwortete Leonhard, „es war eine Handlungsweise, die für Menschen von unserer Natur gar nicht zu begreifen ist. Sie haben darin völlig Recht, wie Sie immer mit Ihrem starken Fühlen, Ihrem raschen Urtheil Recht haben. Aber, sehen Sie, nicht allein das Gesetz, auch unser Gefühl kennt eine Verjährung; der Richter straft den nicht mehr, der vor zwanzig Jahren ein Verbrechen beging, und …“

„Ich kenne eine solche moralische Verjährung nicht,“ sagte Regine; „mag man ein Verbrechen, welches die Leidenschaft herbeiführte, nach Jahren vergessen; das, welches durch eines Menschen Charakter verschuldet wurde, kann nicht verjähren, so lange dieser Charakter derselbe geblieben ist.“

„Daran erkenne ich nun wieder so recht Ihre Natur, Regine,“ erwiderte er lächelnd – „Ihren Abscheu vor jedem Entgegenkommen auf halbem Wege …“

„Meine rechtwinkelige Natur, wie Sie sich auszudrücken pflegen – nicht wahr?“ sagte sie mit einem leichten Aufwerfen der Lippen.

„Ihre rechtwinkelige Natur – just das,“ antwortete er. „Sie kennen nur eine gerade Linie oder einen rechten Winkel. Daß die Linien und Wege im Leben sich auch schlängeln und winden können und doch auch zum Ziele führen; daß der Wind nicht stets aus Ost oder West oder Nord weht, sondern zuweilen auch aus Nord-Nord-West zum Westen, das verstehen Sie nicht, und auch nicht, daß die Rechnungen im Leben selten glatt abgeschlossen werden, sondern gewöhnlich – Goethe sagt das schon – noch ein Bruch übrig bleibt.“

„Mag sein, daß ich so angelegt bin,“ entgegnete sie lächelnd. „Und Sie müssen gestehen, daß es so gut ist – wohin käme die Welt, wenn die Menschen der geraden Linie und des rechten Winkels ganz ausstürben?“

„Gewiß – Sie haben einmal wieder Recht, Regine,“ antwortete er mit einem leisen Seufzer, und ihre Hand erfassend, legte er ihren Arm in den seinen. „Kommen Sie aber,“ setzte er hinzu – „wir wollen uns jetzt zum alten Herrn begeben.“

Sie wandten sich, um in’s Innere des Gebäudes zu gelangen, der nächsten Laufbrücke zu, welche aus demselben in die Gartenanlagen führte. Als sie dann oben in dem Vorsaale des Barons angekommen waren, ging Regine, Leonhard anzumelden, und kam bald zurück, um diesen mit seinem Patienten allein zu lassen. Der Baron war sehr erfreut, seinen Arzt zu sehen, und versicherte ihm dies mit einer besonderen Lebhaftigkeit.

„Wie viel habe ich Ihnen nicht zu sagen!“ fuhr er dann fort.

„Daß es Ihnen wohler geht, viel wohler, das sagt mir schon Ihr Aussehen,“ meinte Leonhard.

„Zunächst das – meine Seitenschmerzen haben sich gemindert; ich schlafe besser – beim Gehen in der frischen Luft, das ich jetzt täglich wage, weil Fräulein Bertram es nicht anders leidet, hat sich der Schwindel nur zwei- oder dreimal noch eingestellt – das werden Sie zunächst hören wollen …“

„Das allerdings – und sehen, was der Puls sagt,“ fiel Leonhard darnach tastend ein.

„Gut – fragen Sie ihn!“ erwiderte der Baron, und nachdem er sich eine Weile schweigend verhalten, bis er Leonhard’s Verdict: „Auch der Puls ist energischer und ruhiger geworden“ erhalten, fuhr er lebhaft fort:

„Nun aber sagen Sie mir, was ist das Geheimniß Ihrer Krankenpflegerin, dieses Fräulein Regine Bertram?“

„Geheimniß?“

„Geheimniß – ja. Weshalb ist eine solche Dame, von einer durch und durch vornehmen Natur, von einer ganz seltenen Bildung und von einem solchen – um es so auszudrücken – getragenen, auf Moll gestimmten Charakter, weshalb ist sie eine Krankenpflegerin? Wie ist es möglich, daß sie, um die das Wesen der besten Gesellschaft liegt, nicht längst von hundert Seiten begehrt worden ist? Sind unsere jungen Männer wirklich so stumpfsinnig geworden – nein, das kann nicht sein – und dazu kommt, daß sie, wie sie mir naiv in’s Gesicht sagt, eine geschworene Feindin des Adels und alles Dessen ist, was damit zusammenhängt. Das ist bei einem so jungen Geschöpf nicht natürlich – es hat seine ganz besonderen, ganz bestimmten Gründe, und so habe ich denn geschlossen: sie liebt einen Grafen, einen Baron; sie ist jedoch von der Familie desselben zurückgestoßen, beleidigt, auf’s Bitterste gekränkt worden, und in der Verzweiflung darüber hat sie das triste Metier einer Krankenpflegerin – das letzte, wozu sie mit ihrer Schönheit, mit ihrem ganzen Wesen geboren ist – ergriffen und haßt den Adel zu ihrer inneren Erleichterung.“

Leonhard schüttelte lächelnd den Kopf.

„Es ist doch schwerlich so, wie Sie sich das ausgedacht haben, Baron!“

„Nicht so? – ich sage Ihnen, Klingholt, es ist so. Denn sehen Sie – ich will Ihnen noch mehr sagen – woher käme es sonst, daß sie ein altes Pastellbild meiner seligen Schwester, das, vergessen und bestäubt, im Speisesaal unten hinter einem Eckschrank hing, mit Andreas’ Hülfe ausgefunden hat? Andreas kennt nämlich zu jedem der Bilder die erläuternde Legende. Wie kommt es ferner, daß sie mir das Bild hier in’s Zimmer gehängt hat und dabei vorgiebt, es sei ein großes Kunstwerk? Wie kommt es endlich, daß sie so oft wie mit stiller Andacht ihr Auge darauf richtet? Woher kommt das? Antwort: sie hat von Andreas die lamentable Geschichte meiner Schwester gehört – Sie kennen diese Geschichte nicht, Klingholt, und wir wollen sie ruhen lassen – aber genug: ich durchschaue es: Fräulein Bertram hat offenbar meiner Schwester als ihrer Schicksalsschwester alle ihre Sympathie zugewendet.“

„Möglich,“ antwortete Leonhard ausweichend, „obwohl es ja sein mag, daß der sympathische Kopf Ihrer Schwester …“

„Nein, nein,“ fuhr der alte Herr erregt fort, „es ist so, wie ich Ihnen sage. Und wenn es so ist, so hören Sie, Klingholt, so habe ich einen Auftrag für Sie …“

„An Fräulein Regine?“

„Einen sehr ernsten Auftrag, den Sie mit Ihrer Diplomatie bei ihr anbringen mögen; es hat mir schon zehnmal auf der Zunge gelegen, ihr selbst die Eröffnung zu machen, aber wenn ich ihr in’s Auge sehe, überfällt mich eine lächerliche Schüchternheit; ich weiß nicht, sie hat etwas in ihrem Wesen und Aussehen, was mich eigenthümlich bewegt; was denn auch wohl macht, daß ich sie nicht leiden sehen kann – ein solches Juwel von einem Mädchen – ich kann sie wirklich nicht leiden sehen – und deshalb, sehen Sie, deshalb will ich ihr helfen und ihrem Herzeleid ein Ende machen – es ist auch etwas in mir, was mich dazu wie zu einer Sühne einer alten vergebenen Schuld drängt; sie hat mir das Bild meiner Schwester nicht umsonst da in mein Zimmer gehängt, wenn sie auch sicherlich nicht ahnte, was sie damit für sich selbst that; es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_274.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)