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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Land und Leute.
Nr. 49.0 Der Hansjochenwinkel.

Als die Königin Luise mit ihrem Gemahl einst ein Potsdamer Garderegiment besichtigte, fielen ihr darin mehrere hohe breitschulterige Gestalten auf. Sie fragte den Flügelmann nach Namen und Heimath und erhielt die Antwort: „Hansjochen (Hans Joachim) Pollehn aus Bonese bei Salzwedel.“ Des Zweiten Antwort auf dieselbe Frage lautete: „Hansjochen Giffey aus Rustenbeck bei Salzwedel,“ des Dritten: „Hansjochen Meyer aus Schmölau bei Salzwedel,“ und so ging es fort. Wohl ein Dutzend dieser vierschrötigen „unflämschen Kerle“[1] hörten auf den Rufnamen „Hansjochen“. Da konnte die hohe Frau die scherzende Bemerkung nicht unterdrücken:

„Das muß dort um Salzwedel herum ja der wahre Hansjochenwinkel sein.“

Weil nun zufällig alle diese Garde-Hansjochen westlich von Salzwedel daheim waren, so weiß seit jenem Tage jeder Altmärker, wo er den Hansjochenwinkel zu suchen hat.

Frau auf dem Kirchgange.

Eine andere Lesart über den historischen Hintergrund der Bezeichnung „Hansjochenwinkel“ will allerdings von dieser „Faogel-Geschicht“ (Fabel, Sage) nichts wissen. Sie berichtet, in Salzwedel habe zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein Zimmerpolier Namens Hans Joachim Winkelmann gelebt. Dieser nun habe auf den Dörfern bei Salzwedel damals die meisten Häuser gebaut und, der niedersächsischen Sitte gemäß, unter den in die Querbalken an der Front des Hauses eingeschnitzten Gesangbuchvers neben dem Namen des „Bauherrn“ und der „Baufrau“ auch seinen Namen verewigt. Weil aber für diesen immer nur wenig Platz blieb, so mußte er sich meistens die verstümmelte Abkürzung „Hans Jochen Winkel“ gefallen lassen und dieses „Hans Jochen Winkel“ habe der Gegend den Namen gegeben.

Der Lenekenstein bei Markau.

Mag das auch noch so einleuchtend klingen, ich für meinen Theil halte es schon aus purem Localpatriotismus mit der ersten Lesart, zumal mein glaubwürdiger Freund Wilhelm Quickenstedt in Bonese mir dieselbe aus seiner Familienchronik des öfteren als verbürgt bewiesen hat, während ich mit seinem trefflichen Lampe’schen Braunbier meine auf Fußtouren im altmärkischen Sande ausgedörrte Kehle anfeuchtete.

Hätte ich nicht Namen von Dörfern genannt, ich wäre gewiß, keiner der Leser würde den Hansjochenwinkel zu finden im Stande sein, und wenn er auch wie nach einer verlorenen Stecknadel westlich von Salzwedel darnach suchte. Atlanten und geographische Handbücher wissen nichts vom Hansjochenwinkel, und bei den Leuten in diesem selber würden Fragen nach ihm im günstigsten Falle gar keine, wenn nicht gar eine grobe Antwort zur Folge haben. So könnte es schon passiren, daß Einer mitten im Hansjochenwinkel nach dem Hansjochenwinkel suchte, ohne zu finden, was er sucht; da „Hansjochen“ in altmärkischem Volksmunde die Begriffe: Tolpatsch und Dummkopf zusammenfaßt, so ist’s erklärlich, daß Keiner schon durch seinen Geburtsort einen Antheilschein an landläufiger Dummheit auf die Welt gebracht haben mag. Als ich in scholarischem Uebermuthe einmal an meinen Vater, einen biedern Bauern, einen „Brandbrief“ um neue „Moneten“ mit dem Vermerke „Markau im Hansjochenwinkel“ adressirte, erhielt ich kurzer Hand die Antwort: „Hansjochen haben kein Geld für dumme Schülerjungen“ und mußte alten Pump mit neuem mehren, bis ein Brief nach „Markau bei Dähre in der Altmark“ eine rettende That erzeugte.

Die Gegend, welche der Volksmund weit und breit als Hansjochenwinkel benamst, ist etwa zwei bis drei Meilen lang und ein bis zwei Meilen breit. Zwei Dörfern drängt man in gutmüthigem Eifer abwechselnd die strittige Ehre auf, Hauptstadt desselben zu sein, Diesdorf und Beetzendorf. Bescheiden lehnt aber jeder Ort das ihm zugedachte Prädicat ab.

Die Bewohner des Hansjochenwinkels sind ein stämmiges, kräftiges Bauernvolk, jedenfalls wendischer Abstammung. Von der sogenannten Cultur noch wenig beleckt, führen sie ein höchst arbeitsames Leben. Der sandigen Scholle gewinnt ihre schwielige Hand nicht nur Roggen, Gerste, Hafer, Buchweizen, Kartoffeln, Rüben, Flachs, Lupinen und andere Futterkräuter ab, sondern selbst trefflichen Weizen wissen sie auf ihm zu erzeugen.

Die Winterabende sind den Spinnstuben gewidmet. Die Jugend des Dorfes sitzt da eingepfercht in eine niedrige, dumpfe Bauernstube und dreht um die schnurrende „Spudel“ Hede- und Flachsgarn. Alles spinnt, Magd und Knecht, Bäuerin und Bauer. Während das männliche Geschlecht das gröbere Gespinnst mit einer Hand erzeugt, schafft das weibliche das feinere mit beiden

  1. „Unflämsche Kerle“: starke, kräftig gebaute Männer. „Unflämsch“ von Flamländer, die durch brandenburgische und preußische Fürsten nach Preußen gezogen wurden. Bei Nordhausen versteht man unter der richtigeren Ausdrucksweise „flämsch“ dasselbe.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_313.jpg&oldid=- (Version vom 22.2.2023)