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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

zu einem freundlichen Städtchen mit einer doppelten Reihe kleiner, sauberer Häuser gemacht. Läden und Werkstätten waren errichtet, und das Schulhaus präsentirte sich höchst gefällig. Führe mein Reisegenosse heute nochmals des Weges, so konnte er ein Lied singen wie Chidher, der Ewigjunge; denn der Flecken Leal ist nicht mehr; weitaus der größte Theil jener Anbauten liegt in Asche, und zerstört sind die Gärten, welche damals in buntem Blumenschmucke prangten.

Bald erreichten wir das Reiseziel und die Heimath meines grauen Gefährten, Schloß Fickel, dessen Abbildung unsere Illustration zeigt.

Fickel, das größte Gut in Esthland, ist seit sechs Jahrhunderten im Besitz derselben Familie, der Freiherrn von Uexküll[WS 1]. Drastischer, als an der Geschichte dieses Hauses, ließe sich kaum der Wandel der Dinge in Esthland schildern, und in der That hat ein junger Historiker, der allzufrüh verstorbene Lossius[WS 2], zwei Bände dieser Familiengeschichte herausgegeben, während der dritte aus seinem literarischen Nachlasse demnächst erscheinen soll.

Wie sich auf den ursprünglichen Kellern, deren Gewölbe aus überragenden Steinen gebildet ist, ein Bau des achtzehnten Jahrhunderts mit allem Comfort der Gegenwart, mit großer Bibliothek, werthvoller Gallerie, reichem Kupferstich- und Handzeichnungencabinet, chemischem Laboratorium – ein reich ausgestatteter Fürstensitz – erhebt, so ist auch die Familie Uexküll durch alle Phasen roher und wilder Zeiten gegangen, um endlich in wissenschaftlicher Bildung und communaler Thätigkeit zu bedeutendem Ansehen im Lande zu gelangen. Seltsame Fügung: vor dreihundert Jahren ergriff der Rath der Stadt Reval einen aus dem Geschlechte der Uexküll’s und richtete ihn mit dem Schwerte, weil er einen Bauern getödtet hatte. Ein vieljähriger Krieg der Uexküll’s und des ihnen anhängenden Adels gegen die Stadt war die Folge dieses Urteils.[WS 3] Und heute ist es ein Freiherr von Uexküll, den dieselbe Stadt zu ihrem höchsten und schwierigsten Amte, dem des Stadthauptes oder Oberbürgermeisters, berufen hat.

In Fickel verließ mich mein Reisecumpan. Nach kurzem Aufenthalt, den ich zur Besichtigung des Schlosses, zumal der Treppenhausbilder Schweinfurth’s, der Gewächshäuser und des von dunklen Tannen beschatteten Familienfriedhofs benutzte, fuhr ich einsam meines Weges, bis sich mir im Abendroth der herrliche Blick auf Reval und auf die weite Bucht dahinter öffnete.

Das erhöhte Plateau, welches die Nordküste Esthlands bildet, tritt hier in weitem Bogen von der Küste zurück, Aus der Ebene steigt ein isolirter, langgestreckter Hügel, dessen östliche Spitze sich bis an das Meer hinzieht, während an der westlichen ein schroffer Kalksteinfels sich erhebt. Auf diesem bauten die Dänen zuerst ihre Veste. Jetzt bildet er den „Dom“. Auf dem unteren Hügelrücken und zu beiden Seiten desselben liegt die eigentliche Stadt.

Die Silhouette Revals, die sich damals vor meinen Augen tief violett von dem röthlichen Abendhimmel und der hellen Wasserfläche abhob, ist außerordentlich schön, und die verschiedene Höhe des Terrains giebt der Stadt ein interessantes Ansehen. Dazu die hochragenden Spitzen schlanker oder feingegliederter Kirchthürme, das Minaret des Rathhauses, burgartige Häuser, mehrere alte Festungsthürme und – damit es auch an weiterer Mannigfaltigkeit nicht fehle – selbst die Kuppel einer russischen Kathedrale. Endlich auf hohen Bastionen üppige Lindengruppen, drüben im Hafen aber die Masten und Schornsteine großer und kleiner Schiffe – in der That ein imposantes Bild!

Die Erwartung, welche mir der erste Anblick bot, sollte durch die nähere Besichtigung der Stadt an den folgenden Tagen nicht getäuscht werden. Es ist viel deutsches Alterthum da vertreten und Neigung vorhanden, den gothischen Charakter der Stadt zu wahren, aber die zunehmende Bevölkerung drängt aus den engen Straßen hinaus; denn wenn der Revalenser guten, alten Schlags von jeher gleichsam mit einem „Höfchen“ zur Welt kam, in dem er seine Sommerwochen verlebte, so baut sich das junge Geschlecht auch für den Winter außerhalb der Stadt an, und in Folge dessen verschwinden mehr und mehr die Spuren der früheren kriegerischen Zeiten Revals, die Wälle und Glacis.

Als die Flotte der „Alliirten“ 1854 und 1855 Stadt und Hafen blokirte, wurde eine ausgedehnte, mit hübschen Gartenanlagen geschmückte Vorstadt zu Vertheidigungszwecken rasirt und ein kleiner Park am Fuße des Kiek-in-die-Koek nur mühsam der Stadt erhalten. Die Engländer warfen nur einige Kugeln auf einen Friedhof vor der Stadt. Reval selbst blieb verschont und hatte nur die Alleen vor seinen Thoren und jene Vorstadt geopfert. Jetzt erinnern der mächtige Festungsthurm Kiek-in-die-Koek, von dem aus 1577 eine Kugel den russischen Feldherrn niederstreckte, die schlanke Schloßwarte, der „lange Herrmann“ und der weite Zwinger, die „dicke Grethe“, noch wohlerhalten an die alte Zeit, Auf den Schanzen aber sind Gärten entstanden und öffentliche Belustigungsorte.

Wie sich der Humor der Revalenser bei der letzten Blokade nicht verlor, so hatten auch ihre Vorfahren allezeit Tapferkeit und ein großes Maß bürgerlicher Opferfreudigkeit und Ordnungsliebe bewiesen. Wer die Geschichte dieser Stadt schreiben wollte, hätte viel von der deutschen Fähigkeit zur Selbstverwaltung, von der deutschen Tüchtigkeit in Handel und Gewerbe, von dem tapfern Muthe und der guten Sitte der Deutschen in Krieg und Frieden zu melden. Die Geschichte der Ostseeprovinzen sollte sich im deutschen Volke größerer Beachtung erfreuen: nirgend hat sich deutscher Bürgersinn in so schweren Verhältnissen fester bewährt und nirgend unablässiger für die idealen Güter des deutschen Wesens gekämpft als dort. Mit freudiger Zuversicht konnte der alte Chronist schreiben:

„So lange die beiden Stede Riga vnde Reuel erholden bliuen, ys de Muscowiter aller erauerden Landen, Stede vnde Festinge nicht ein her, besundern man ein Gast, vnde wenn disse beide gemelten Stede affhendich vörden, dat Godt vorbede, So were ydt mit ganz Lyfflandt ewich verlaren, welckes allen vmmeliggenden Landen vnde Steden, nicht allein grote sorge vnde gefahr, besundern ock in der Ostsee, solck eine Confusion vnde vorkeret vesen geuen wörde, des man in ewicheit genochsam thobeweynende vnde thobeklagende hadde.“

Aeußerlich, das heißt politisch sind diese beiden Städte und mit ihnen ganz „Lyfflandt“ seit hundertdreiundsiebenzig Jahren „affhendig wörden“, und man hat im Jahre 1860 in Reval das hundertfünfzigjährige Jubiläum der russischen Herrschaft mit Errichten von Kletterstangen, Sacklaufen, Einfangen geseifter Ferkel u. dergl. „Talkusfreuden“ gefeiert. Der Deutsche in ganz „Lyfflandt“ ist seit Beginn des russischen Regiments bis auf heute durch und durch loyal, aber er ist seiner Nationalität ebenso treu, wie dem Staate Rußland. Er kann nicht einsehen, daß zwischen seiner Nationalität und dem russischen Staatsbegriff ein natürlicher Gegensatz bestehe. In den ersten hundertfünfzig Jahren der Zugehörigkeit der Provinzen zu Rußland hat ein solcher Gegensatz, sehr zum Vortheil beider, der Provinzen wie des Gesammtstaates, nicht bestanden, und darum konnte jene Feier begangen werden; darum sind jene Städte der deutschen Cultur nicht „affhendig wörden“. Von den herostratischen Gelüsten der Barbaren, die heute den Czaren in Gatschina gefangen halten oder auf Brandreden reisen, war damals noch keine Spur. Erst seitdem sowohl die esthnische Volksschule in rascherem Tempo gefördert wird, wie auch der Grund und Boden immer mehr in den Privatbesitz von Esthen übergeht, schleudert ein Theil der russischen Presse seine Pechkränze gegen die aufblühende Organisation der Provinz.

Zum Schlusse sei es gestattet, auf die Eigenart der deutschen Landbewohner – der Russe nennt die deutschen Großgrundbesitzer kurzweg baltische Barone – hinzuweisen.

Wie der Kurländer, so sind auch der Livländer und der Esthländer eine Species für sich. Für die Völkerpsychologie werden ihre Eigenthümlichkeiten aber erst interessant, wenn man sie zu dem Zusammenleben mit den Letten und Esthen in Beziehung setzt und den unter Letten lebenden Deutschen mit dem unter den Esthen vergleicht. Von Blutvermischung kann hier nicht die Rede sein; es handelt sich nur um den Einfluß, welchen durch Jahrhunderte hindurch Esthen und Letten auf die Deutschen geübt haben; denn unverkennbar spiegeln sich die Eigenschaften dieser beiden Völker in dem Charakter der Deutschen wieder. Wir begegnen in dem Deutschen des esthnischen Gebietes allen den Talenten und Schwächen, die den Esthen vom Letten unterscheiden: Er ist für alles Gefühlsleben zugänglich, zugleich aber auch zu Spott und Neckerei geneigt, wie denn die Reihe der gefeierten provinzialen Witzbolde nie ausstirbt. Außerdem ist er musikalisch, bildhauerisch und malerisch begabt – vier Esthländer ließen 1817 das erste deutsche Quartett von der Scala di Spagna über die ewige Stadt hintönen, und heute wirken an der Petersburger und an deutschen Akademien mit Auszeichnung sieben Esthländer als Professoren der Malerei oder Bildhauerei; wie auch unter den baltischen Lyrikern die des esthnischen Gebietes eine höchst ehrenvolle Stelle einnehmen. Die Wissenschaft hat unter ihren hervorragendsten Namen einige

  1. Wikipedia: w:Uexküll
  2. ADB:Lossius, Johannes
  3. Vorlage: Urtel
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_402.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)