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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

neue Verhältniß eintrat. Denn verbittert mußte es sie haben, daß er Alles, was von ihr herrührte, mit Füßen getreten und vernichtet hatte.

Noch immer umschwebte ihn der Duft der Kräuter. Träumend meinte er, daß dieser Duft von den Flammen ausgehe, welche den Kranz verzehrten. Wer konnte ahnen, daß die Fürsorge für ihn das Mädchen noch einmal in sein Haus führen würde? Eine überflüssige Fürsorge obendrein, nachdem sie ihm bereits Lebewohl gesagt hatte. Aber ihr Boot lag noch vor seiner Thür, sie mußte daher noch einmal zurückkehren. Dann wollte er vor sie hintreten, sie bitten, ihm das sinnlose Treiben zu verzeihen, ihm ein freundliches Andenken zu bewahren, wie auch er ihr stets in aufrichtiger Freundschaft zugethan sein werde.

Nicht länger mehr störten wirre Phantasien seinen Schlaf. Vollständige Vergessenheit legte sich um seine Sinne. Sein Blut kühlte sich ab; er athmete lang und tief. –

Als Knut endlich erwachte, war es heller Tag. Er sprang empor und sah zum Fenster hinaus. Die westlichen Plateauränder schwammen bereits in Sonnenschein. Gleich darauf stand er draußen auf dem Felsenufer – – das Boot war verschwunden. Nirgends entdeckte er eine Spur desselben. Es konnte ihn nicht überraschen; denn Engelid hatte ihm angekündigt, am frühen Morgen ihre Reise antreten zu wollen.

Bitter enttäuscht ließ er sich auf einen Felsblock nieder. Was hätte er nicht darum gegeben, noch einige Worte mit ihr zu wechseln! Allein sie war fort, weit fort, bereits auf dem Wege zu Jemand, dem ihr ganzes ferneres Leben geweiht sein sollte, zu Jemand – es waltete ja kein Zweifel darüber – dem er selbst sie in die Arme gelegt hatte. Wie erschien ihm sein Haus plötzlich öde und vereinsamt – wie licht dagegen jeder Raum in der Erinnerung an Engelid! Mit beiden Händen fuhr er in sein Haar. Da gedachte er der Möglichkeit, daß sie vor dem Dorfe noch einmal angehalten habe. Schnell begab er sich in’s Haus zurück, um bald darauf wieder im Freien zu erscheinen. Hastig schritt er dem Dorfe zu. Wo sie übernachtete, wußte er, denn dieselben Leute, bei welchen sie vor zehn Jahren um Lohn diente, hatten sie zu Gast geladen. Von ihnen erfuhr er mit mancher lobenden Bemerkung, daß sie beim ersten Grauen des Tages sich reisefertig gemacht habe, um den günstigen Wind, welcher durch den Fjord hauchte, auszunutzen. Heiter sei ihr Abschied gewesen, berichteten die guten Leute, heiter auch der Gruß, welchen sie für ihn zurückgelassen habe. Ueber die Richtung ihres Weges hatte sie sich nur unbestimmt geäußert, dagegen gemeint, daß wohl einige Zeit vergehen möchte, bevor sie den Lyster-Fjord wieder besuche. Auch von ihm hatte sie noch in der letzten Minute gesprochen und gerathen, daß die Nachbarn ihn als einen guten Freund willkommen heißen und sich die Mühe nicht verdrießen lassen sollten, die Bitterkeit in seiner Natur zu bekämpfen, ihm nach dem langen Umherirren auf allen Meeren die Heimstätte in eine behagliche umzuwandeln.

Nach diesen Mittheilungen war Knut gegangen, aber nicht zurück nach seinem Hause, sondern zum andern Ende des Dorfes hinaus. Dort hatte er wieder auf dem Uferrande gesessen und vor sich in die unergründlichen Fluthen hinabgeschaut, wie um in der Tiefe nach einem Anhalte zu einem entscheidenden Entschlusse zu suchen.

Eine Stunde und länger saß er dort. Plötzlich sprang er empor. Als hätte es gegolten, ein großes Versäumniß einzuholen, schlug er einen Pfad ein, welcher durch das Schluchtengewirre, über Höhen hinweg und an Abgründen hin nach dem Aarlands- Fjord führte. Spät Abends traf er daselbst auf einem Fischergehöfte ein, wo er gastliche Aufnahme fand, aber nur kurze Zeit rastete er daselbst, nur so lange, bis der Tag sich anmeldete. Dann ließ er sich über den Fjord setzen, und als die Sonne mit ihren ersten schrägen Strahlen die zackigen Plateaus streifte, da befand er sich bereits wieder auf dem Wege nach der massiven Höhe hinauf, welche auf der andern Seite von dem Lärdal und dem dieses enggewundene Thal durchschäumenden Elf begrenzt wurde. Aengstlich beobachtete er auf seinem schwindelnden Wege die wechselnden Luftströmungen. Er berechnete deren Wirkung auf die unten in den Fjords befindlichen Segel und die Zeit, welche diese gebrauchtem um bestimmte Entfernungen zu durchmessen. Oft meinte er zagend, von der beschwerlichen, seine ganze Kaltblütigkeit, seine ungeteilten Kräfte in Anspruch nehmenden Wanderung abstehen zu müssen.

Doch immer wieder raffte er sich empor, und dahin eilte er, als hätte sein Leben davon abgehangen, vor Ablauf einer bestimmten Frist an ein ihm vorschwebendes Ziel zu gelangen. Ihn lockte nicht mehr die Aussicht auf die ihn umringenden gletschergekrönten Gebirge, nach welchen vor kurzem noch sein ganzer Sinn stand, lockten nicht die sich gleichsam drohend anbauenden bizarren Hörner, Pics und Dome. Kalt glitten seine Blicke über dieselben hin, kalt und theilnahmlos, als hätte er sich von der gewaltigen Naturumgebung nie getrennt gehabt, nach welcher er doch die vielen langen Jahre hindurch, wenn er auf fernen Meeren der ihm verbotenen Heimath gedachte, sich so innig gesehnt. Nach vorn nur waren seine ängstlich suchenden Augen gerichtet, und als er endlich den südlichen Rand des Plateaus erreicht hatte, von welchem aus er in das Lärdal mit seinen schmalen grünen Wiesen und reifenden Getreidefeldern hinabsah, athmete er auf, wie Jemand, der vor einer Aufgabe steht, deren Lösung über sein ganzes Leben entscheiden soll.

Die westliche Sonne streifte einen Theil der Thalsohle. Deutlich erkannte er die Kunststraße, welche als feine weiße Linie der Richtung des sich durch schäumende Gefälle auszeichnenden Stromes folgte. Vereinzelte Menschen und Gefährte unterschied er nach längerem scharfem Hinabspähen als einherkriechende Punkte. Erschien die seltsame Stabkirche von Borgund doch wie Spielzeug, von Kinderhänden auf eine grüne Decke hingestellt, umringt von Häuschen und Hütten, wie solche auf Weihnachtsmärkten der munteren Jugend feil geboten werden. Die Borgunder-Kirche aber war sein nächstes Ziel. Von dort betrug die Entfernung bis zu der von dem tosenden Elf getriebenen Mühle des alten Ornesen nur noch wenige Minuten.

Auf dem Antlitz den Ausdruck von einander wild bekämpfenden Empfindungen, trat Knut seinen Weg abwärts an. Ein echter Gebirgspfad war es, dem er folgte. Oft kaum erkennbar, von der Natur allein für die sicheren Hufe scheuer Renthiere geschaffen, führte er an den schroffen Abhängen hin. Doch hinab und tiefer hinab eilte Knut springend und kletternd, unermüdlich. Je deutlicher sich die östlich und westlich zwischen gewaltigen Plateaus sich verlierende Straße von ihrer Umgebung abhob, um so ängstlicher spähte er nach einer hohen kräftigen Mädchengestalt, welche, vielleicht am Lärdalself heraufkommend, der alterthümlichen Kirche zuwanderte.

Der Sonnenschein war längst von der Thalsohle fortgeglitten, als nur noch einige Geröllhügel ihn von dem Elf trennten. Vereinzelte Menschen kamen und gingen; zweirädrige Karriols rollten hierhin und dorthin, doch was seine Augen suchten, fanden sie nicht.

Wer sagte ihm, wo diejenige weilte, die ihn zu der mühevollen, beinahe seine letzten Kräfte erschöpfenden Wanderung veranlaßt hatte? War er von ihr getäuscht worden, und befand sie sich dennoch auf dem Wege nach der Schärenhütte? Hatte sie in dem Städtchen an der Mündung des Elfs, wo sie mit ihrem Boote landete, sich bei Freunden länger aufgehalten, oder war sie, begünstigt durch den Wind und eine spätere Fahrgelegenheit das Lärdal herauf, ihm zuvorgekommen? Nach seiner Berechnung konnte sie doch kaum vor Abend an ihrem Ziele eintreffen.

Langsamer wurden seine Schritte – er vermochte ja die Straße weit aufwärts und abwärts zu übersehen. Was brauchte er sich jetzt noch zu übereilen? War Engelid noch nicht eingetroffen, so konnte sie einer Begegnung mit ihm nicht mehr ausweichen – befand sie sich aber schon bei dem Müller, so war es überhaupt zuspät.

Er erreichte die Kirche, den vielhundertjährigen Holzbau, welcher in seiner äußeren, mit Drachenköpfen geschmückten barocken Form an einen chinesischen Götzentempel erinnerte, oder vielmehr den wilden Geschmack der alten Nordlandsfahrer zur Schau trug. Die Straße führte an der niedrigen Mauer vorüber, welche die nächste Umgebung der Kirche einfriedigte. Auf einer Stelle derselben, wo er der Aufmerksamkeit der Vorübergehenden weniger ausgesetzt, ließ Knut sich nieder. Träumerisch spähte er nach dem freundlich gelegenen Mühlengehöft hinüber, hinter welchem der die Räder und Sägen treibende Elf über ein breites Wehr schäumte. Das von der Wohlhabenheit des Besitzers zeugende Wohnhaus betrachtete er gespannt, wie von dort her ein Zeichen erwartend, daß Engelid bereits anwesend und sich durch ein einziges Wort auf Lebenszeit an dasselbe gekettet habe. Mit Gewalt zog es ihn hinüber, und doch fehlte ihm der Muth, dieser Regung nachzugeben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_408.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)