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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

gestattet wurde, in ihre eigenen Taschen zu greifen und sich auf ihre Kosten einen Weg nach den Stationen des Verkehrs anzulegen. Ohne Purger krabbelten die Kraxenträger noch heute über das Joch. Selten vermeldet, wie wir wissen, eine ruhmredige Gedächtnißtafel den wahren Namen desjenigen, den man als den Urheber des Werkes ansehen sollte. Meist erscheint in Goldlettern der Name irgend einer Person, die gar nichts oder vielleicht nur durch die Mühe einer Unterschrift mit demselben ein wenig zu schaffen hatte. Purger’s Name aber ist dort, am Felsen unter Pontifes, mit Recht eingegraben, und alle Vorübergehenden müssen des Mannes gedenken. Wenn die Buchstaben der Inschrift längst unleserlich geworden sind, wird man im Thale noch vom „alten Purger“ erzählen. Er hat seine Heimath erschlossen. Auch in anderer Hinsicht bleibt sein Andenken geehrt. Es fiel ihm nicht bei, das Mark der Grödener auszunutzen. Der Gegensatz von Geld und Arbeit wurde damals den armen Schnitzern nicht empfindlich. Purger wäre es nie in den Sinn gekommen, durch schlechte Nahrungsmittel, durch verfälschte Milch einen Theil des ausgezahlten Lohnes wieder in die eigene Tasche zu bringen.

Der Anfang und Fortgang der Grödener Schnitzerei hat viele Aehnlichkeit mit der Geschichte der Mittenwalder Geigenindustrie. Es ist in Gröden nicht so gegangen, wie beispielsweise in Partenkirchen-Oberammergau, wo durch das Auftreten eines einzigen Mannes künstlerisches Leben in Fluß kam und die Arbeit urplötzlich aus dem Bereiche gewöhnlichster Hausindustrie in den des Geschmackes hinüber gehoben wurde. Gröden hatte keinen Michael Sachs, wie das baierische Hochland. Erst in neuester Zeit hat die österreichische Regierung, um Jahrzehnte hinter den Nachbarn nachhinkend, durch Errichtung einer Schnitzschule darauf hinzuwirken angefangen, daß nicht die Grödener Arbeit durch geschmackvollere Leistungen der Mitbewerber allenthalben aus dem Felde geschlagen werde.

Die Holzschnitzerei in Gröden begann im Laufe der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Zuerst erstreckte sie sich nur auf Rahmen, Kraxenträger schleppten diese Holzrahmen über den Berg hinaus, und war der Vorrath ihres Tragkorbes erschöpft, so kehrten sie um. Allgemach wurde ein solcher Verkehr zu umständlich und lästig. Es lohnte sich nicht mehr, mit so geringen Vorräthen weite Reisen, wie nach Preußen und Rußland, zu machen, und so ließen sie sich an entlegenere Orte Waaren nachführen. Es entstanden Depots, Niederlagen.

Die Nachfrage nach den billigen Erzeugnissen wurde immer größer, und allmählich thaten sich Männer im Thale selbst auf, welche Waaren zusammenkauften oder auf Bestellung anfertigen ließen, Verleger. Ein Beispiel aus dieser Periode des Grödener Handels bietet uns Dominicus Mahlknecht. Als junger Bursche begann er mit seinem Tragkorbe zu hausiren, sammelte nach und nach Geld an und wurde Großhändler. Als er starb, berechnete man sein Vermögen auf eine halbe Million Gulden.

Wie bei aller Betriebsamkeit, so nimmt auch in den Grödener Schnitzwaaren die Nachfruge ab und zu. Eines der besten Jahre war 1868. In diesem Jahre betrug das Gewicht der von Gröden ausgeführten Schnitzereien 8000 Centner, ihr Werth 600,000 Gulden. Während der siebenziger Jahre bemerkte man fühlbaren Rückgang. Dermalen hingegen werden die Spielsachen aus Gröden wieder viel begehrt. Der Arbeiter ist nicht verlegen um Absatz, und er ist es, welcher vom Verleger gesucht wird – nicht umgekehrt, wie es wohl schon in schlimmeren Zeiten der Fall war. Gleichwohl dürfen die Grödener nicht vergessen, daß sie gefährliche Nebenbuhler haben. So lange in den Kunsthandlungen Innsbrucks die schönsten Stücke von dem, was dort als „tirolische Schnitzwaare“ feilgeboten wird, nicht von ihnen herrühren, steht ihrem Ehrgeize noch ein weites Feld offen. Auch ist es vielleicht unnöthig, daß sich die Verleger auf ihre Kosten bereichern, und könnten sie es den Ampezzaner Filigran-Arbeitern nachmachen, welche sich zu einer Genossenschaft zusammengethan haben.

Unter den Männern, welche sich um den Fortschritt des Grödener Kunstgewerbes verdient gemacht haben, muß der dermalige Zeichnungslehrer Herr Sotriffer erwähnt werden. Er wohnt neben der Kirche zu St. Ulrich, im Angesicht des gewaltigen Grödener Wahrzeichens, des Langkofel. Seine Behausung bietet schöne Aussicht, sein Gespräch Einblick in die Geschichte des Thales Gröden und die Mannigfaltigkeit seiner Natur. Gelegentlich sei erwähnt, wie sein Name zu denjenigen gehört, an welchen man die beliebte Germanisation der romanischen Namen zu studiren vermag. Sotriffer kontmt her von sotto ripa, das heißt unter dem Hang, Rain, und wäre demnach mit Unterrainer zu übersetzen. Dieser Name ist zu vergleichen mit Aldosser, Welponer, Pineiter, die von al doss, val bona, pineto abgeleitet sind und etwa mit Bühler, Gutthaler, Fichtner verdeutscht werden könnten.

Nachdem ich so viel über die Grödener und ihre Schnitzereien gesagt, gestatte ich mir einige Worte über ihre Wohnstätten.

Wären die hohen Schrofen nicht, die steil in das obere Thal abfallen, so möchte sich der Wanderer beim ersten Anblick in irgend eines der Thäler des baierischen Voralpengebirges versetzt glauben. Allgegenwärtiges Grün von Nadelholzwäldern und Wiesen und dazwischen verstreut weiße Häuser. In der That verrathen die romanischen Grödener, in ihrer Weise zu wohnen, nicht die geringste Verwandtschaft mit den italienischen Nachbarn. Diese letzteren lieben es nicht, sich in vereinzelten Häusern anzusiedeln. Sie ballen ihre Wohnstätten zusammen und das feste Mauerwerk ihrer Dörfer gleicht einem heruntergekommenen Theile der nächsten besten Stadt. Die Ladins aber folgen dem germanischen Triebe, der schon den römischen Schriftstellern der Kaiserzeit auffiel. Romanisch dagegen ist die Theilnahmlosigkeit an der Verschönerung des eigenen Heims durch die Pflanzenwelt.

Wohl sind hier die Lüfte rauh – aber in noch rauheren Thälern des deutschen Hochlandes fehlt nie das wenn auch noch so dürftige Gärtchen vor der Schwelle mit der flüchtigen Zier seiner Mohnblumen, Päonien oder Astern. Darum kümmert sich aber der Grödener nicht. Im Herbste 1881 beispielsweise werden wohl die meisten Fremden kopfschüttelnd bemerkt haben, wie mitten im Dorfe St. Ulrich, in welchem die Verleger so schöne Häuser stehen haben, der ansehnliche Raum nördlich vom Adlerwirthshause, gegen den Purger’schen Palazzo hin, ausschließlich von Disteln und nur von Disteln bedeckt war – ein weiter Distelacker, so dicht von diesen Stachelgewächsen bedeckt, als ob die Bewohner von ihnen und nicht von ihrer Arbeit oder von Brodfrüchten leben müßten.

Bädeker’s verdienstvolles Handbuch zählt alle Zugänge in’s Thal auf. Fahrbar ist nur der durch die Klammen des Thürsenbaches, deren Wasser- und Felsansichten gewiß von John Bull zu gering geschätzt werden, wenn er sagt, daß „ihre Scenerie sich kaum zur Größe erhebt“. Herr H. J. Meyer in Leipzig dagegen befindet sich im Rechte, wenn er in seinen „Deutschen Alpen“ Gröden ein „köstlich frisches Thal“ nennt.

Freilich ist es ein ganz anderes Ding, sich dem Grödener Thale über irgend eines der Jöcher zu nähern. Sie sind alle leicht zu begehen, bis oben hinauf mit Gras, zum Theil auch mit Bäumen, bewachsen. Wer da oben geht, sieht die Pracht der Dolomite. Er staunt die Größe ihrer Steilwände, die Zerrissenheit ihrer Zacken, noch mehr aber vielleicht die Kühnheit der Menschen an, deren Fuß sich nicht durch die Schrecknisse abhalten ließ, mit welchen die Geister der Gipfel sich gegen menschliche Annäherung vertheidigen. Was da gewagt wird, das möge die Erzählung der Frau Antonie Santner, die eine Nacht auf dem Langkofel zugebracht hat, andeuten. Ich habe dieses wundersame Abenteuer in meinem „Bozener Führer“ mitgetheilt.

Einen lehrreichen Gegensatz bietet der Pflanzenwuchs des unteren und des oberen Thales. Dort unten, in den von jäh abstürzenden Wassern durchtosten Engen, hängt die Traube von luftigem Pfahldache und werfen Nußbäume und Kastanien ihre Schatten über den silbrigen Schaum. Dort oben, im Langthal, wo die letzten Trümmer von Wolkenstein stehen, gedeiht die Legföhre um schneeweißes Geröll. Kein Wunder – denn bis zur letzten Gaststätte, Plan, (dessen freundliches Wirthshaus gepriesen sei) hebt sich das Thal um ungefähr 1200 Meter.

Wer Grödens Hochkare und Schneefelder, seine von so wunderlichen Sagen belebten Felseinöden, seine stäubenden Bäche und dunklen Fichtenwälder in einer Bildergallerie vereinigt suchen will, der lasse sich von Franz Moser in Bozen eine Sammlung der Lotze’schen Photographien kommen! Noch besser freilich, wenn er dem folgt, was ich ihm in meinem Abschiedsworte anrathe.

Die „Gartenlaube“ hat schon Sätze ist Sprachen entlegener Erdtheile gebracht, aber noch keinen im hinschwindenden Idiome der Rhätoromanen. Mein Gruß sei also in dieses gewandet, indem ich sage: Je cunascia velga mia tutas las stredes che meina della bella val de Gherdeina. U les truepes d’autri m’ unito! Das heißt verdeutscht: Ich kenne schier alle Wege, die in’s schöne Grödener Thal führen. Mögen recht viele Andere mir nachfolgen!




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