Seite:Die Gartenlaube (1882) 444.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Volkswirthschaftliche Zukunftsaufgaben.

Nr. 1.0 Personenporto im Eisenbahnverkehr der Zukunft.

Die Idee, den Menschen gewissermaßen als Frachtgut zu behandeln, ihn bei dem Verkehr auf Eisenbahnen in der gleichen Weise zu befördern wie Güter, tauchte schon früher von Zeit zu Zeit in einzelnen Köpfen auf. So erzählte die „Gartenlaube“ schon in den sechsziger Jahren ihren Lesern, daß ein Engländer auf dem Pariser Hauptpostamt erschienen sei und gefragt habe, wie viel wohl ein Brief, eben so schwer wie seine Person, nach London kosten würde. Nachdem er gewogen und ihm eine erhebliche Summe genannt worden war, verlangte der Sohn Albions, mit Freimarken beklebt und nach London gesandt zu werden.

Tritt bei diesem Vorgange die Idee der Personenbeförderung als Postfrachtgut noch in sehr primitiver Form auf, so kommt folgende Erzählung amerikanischer Blätter dem Zweck schon viel näher.

Ein Mann in Chicago, als excentrisch bekannt, verlangt von einem Eisenbahndirector, von Chicago nach Philadelphia als Frachtgut spedirt zu werden. Der Director erklärt das nicht für unmöglich, doch zerschlagen sich die Verhandlungen, da der Petent nur den Frachtsatz von zwei Dollars zahlen, der Eisenbahndirector aber den Personentarif angewendet haben will, was Jener für eine Ungerechtigkeit erklärt. Er beschließt, dem Director zu beweisen, daß er Unrecht hat, läßt eine große Kiste machen, gut ausstatten, legt sich hinein und wird als Frachtgut aufgegeben. So fährt er eine ziemliche Strecke auf Philadelphia zu, bis er sich durch Geräusch verräth, worauf die Kiste geöffnet und er auf Personenbillet nach Chicago zurückgeschickt wird. – Wäre er nicht entdeckt worden, so wäre er für den Frachtsatz gefahren.

Die „Ladins“ im Grödener Thal in Südtirol.
Nach der Natur gezeichnet von Richard Püttner.

Der Gedanke, von welchem der Mann ausging, war der folgende: Warum soll die Bahnverwaltung für die Beförderung einer Last von meinem Gewichte einen verschiedenen Tarif erheben, wenn sie in verschiedener Form zum Transport gelangt? Wenn sie dem Menschen einen größeren Comfort bietet, als dem Gut, das sie einfach in die Ecke des Waggons wirft, so muß sie es doch erst werfen und dann wieder hervorholen lassen, hat Schreibereien und Scheerereien aller Art, während der Mensch keinen weiteren Anspruch an sie stellt, als im Waggon aufgenommen zu sein, und alles Uebrige selbst besorgt. Daß diese Anschauung einen berechtigten Kern birgt, wird sich kaum leugnen lassen. Von einem durchaus ernsten Standpunkte versuchte im Jahre 1865 ein Engländer, Raphael Brandon, die Frage des „Passagierportos“ zu lösen. Nach seinen in der Broschüre „Railways and the Public“ niedergelegten Anschauungen sollte der Passagier als Brief behandelt und durch das gesammte Gebiet des vereinigten Königreiches zu einem und demselben bestimmten niedrigen Fahrpreise befördert werden. „Eine Dreipence-Marke,“ berichtete im Jahre 1865 die „Gartenlaube“, „soll nach dem Vorschlage Brandon’s den Reisenden von London nach dem Krystallpalaste von Sydenham wie nach der äußersten Spitze von Schottland in dritter Wagenclasse befördern. Wer sich der zweiten Wagenclasse bedient, soll eine Sechspence-Marke, und wer sich den Luxus der ersten Classe gönnen will, eine Schillingsmarke zu lösen haben.“[WS 1] Durch sorgfältige Rechnungen hat Brandon nachgewiesen, daß diese Neuerung die Eisenbahnen Englands keineswegs schädigen, sondern bei naturgemäß zunehmender Personenfrequenz der Bahnfahrten die Einnahmen derselben sogar bedeutend erhöhen würde.

Die Hauptbedingung, an welche Brandon die Verwirklichung seines Projectes knüpfte, war die Verstaatlichung sämmtlicher englischen Eisenbahnen, aber sein genialer Gedanke fand unter seinen Landsleuten keinen Anklang, und wurden seine Vorschläge von dem englischen Parlamente einfach ad acta gelegt. In Deutschland sollen Anregungen zur Ausführung dieser äußerst wichtigen Idee bereits vor einer Anzahl von Jahren von Seiten des um das deutsche Verkehrswesen so hochverdienten General-Postmeisters Dr. Stephan durch eine Denkschrift gegeben worden sein.

Die von Brandon erwähnte Hauptbedingung ist inzwischen in Deutschland zur Thatsache geworden, indem der größte Theil unserer Bahnen in den Besitz des Staates übergegangen ist, und so erscheint es wohl an der Zeit, aus dieser Thatsache, gegen welche aus politischen und volkswirthschaftlichen Gründen sonst Manches einzuwenden wäre, den möglichsten Vortheil zu ziehen und die Einheitlichkeit der Bahnverwaltungen zur Erweiterung und Erleichterung des Verkehrs im Brandon’schen Sinne zu benutzen.

Der heutige Stand der Personenbeförderung auf Eisenbahnen in Deutschland charakterisirt sich kurz in Folgendem. Gewöhnlich existiren vier Wagenclassen; das Fahrgeld ist im Vergleich zu dem Tarif anderer Länder billig. Immerhin ist es aber theuer genug, um der weit überwiegenden Mehrzahl der Einwohner zu verbieten, andere als die allernothwendigsten Reisen zu machen, ganz kurze Strecken ausgenommen. Die pecuniären Folgen dieses Zustandes werden durch die statistische Notiz, daß der Personentransport auf den preußischen Staats- und unter Staatsbetrieb stehenden Privatbahnen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist der nicht 1865, sondern 1868, S. 735 f, gedruckte Bericht „Der Mensch als Poststück
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_444.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2023)