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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Die Zeitgenossen der Erbtochter des Patricierhauses waren allgemach weggeblieben. Gar mancher Rathsherr konnte es dem noch immer stattlichen Mädchen nicht vergessen, daß sie einst den Ehering verschmäht hatte, den er ihr geboten, als sie noch jünger und schöner war als jetzt, und auch die Frauen ließen ab von ihr. Sie fühlten wohl heraus, daß die Ursula kein Begehren trug, von ihren Leiden und Freuden zu vernehmen; ihre Kleinen aber, die sie manchmal mitführten, hingen sich schreiend in die Falten ihrer Gewänder, wenn sie dem düstren, grauen Hause nahten, das so kalt und stolz aus seinen Bogenfenstern schaute, wie die mächtigen braunen Augen seiner Besitzerin aus der Verhüllung des Sturzes.

Das Gesinde der Ursel lebte so eingezogen wie die Herrin. Die Mägde fanden nicht Ursache beim Wasserholen zu plaudern; denn im rings von steinernen Laubengängen umschlossnen Hofe rauschte ein Brunnen unter einer Blumenesche, die der schon lange zu seinen Vätern versammelte letzte Hausherr als schwankes Bäumlein aus dem Lande Italia mitgebracht hatte. Sein weißhaariger Knecht aber, der noch den Dienst versah, sprach allewege nicht.

Es dämmerte schon stark, aber das Haus war noch unerleuchtet. Nur durch das stark vergitterte Lugfensterlein im weiten Flur drang ein matter Schimmer der ewigen Lampe, die vor einem altersgeschwärzten Crucifix brannte.

An einem Fenster im ersten Stock saß die herbe Ursel auf der geschnitzten Eichenholzbank. Den Arm, dessen edle Form der eng anliegende Aermel zeigte, auf die Steinbrüstung gestützt und das schöne Haupt auf die noch jugendlich volle Hand gelehnt, schaute sie über die Giebel und Thurmspitzen hinaus dahin, wo das matte Abendroth am stahlblauen Himmel verglomm. Wie manches Jahr hatte sie nun hier allein gesessen, seit der Letzte seines Stammes, ihr Vater, draußen auf dem Johanniskirchhof den ewigen Schlaf schlief! Wie sie aus dem Gedächtniß ihrer Jugendgefährten geschwunden war, so hatte auch sie fast vergessen, daß es noch glückliche Familienkreise, heitre Feste, gute Freunde und Genossen auf Erden gab. Sie hatte Niemand mehr, dem sie am Weihnachtsabend den Lichterbaum anzündete, der mit ihr zum Hochamt nach St. Sebaldus hinüberwandelte oder beim Fasching ihr den Arm im Gedränge bot. Nur ihre Leibmagd begleitete sie mit Kerzen und Gebetbuch, wenn sie am Allerseelentag den Weg nach dem Johanniskirchhof hinausschritt, den die kunstfertige Hand Adam Krafft’s vom Pilatushaus aus auf sieben Stationen mit Steinbildern und am Eingang des Friedhofs mit einer Kreuzigung geschmückt hatte. Während sie sich niederwarf an den Passionsbildern, dachte sie, daß jedes Leben ein Leidensweg sei, und jeder Tod eine Erlösung. Und wenn ein warmer Juni- Abend sie einmal hinauslockte zum Johannisfeuer, dann ging der Knecht mit einem Knebelspieß voraus, sorgend, daß sie nicht gestoßen wurde, und die einzige Beachtung, die sie fand, war hier und da ein fremd gewordener Gruß früherer Freunde, ein scheues Flüstern der herangewachsnen Jugend, die sie nur dem herben Namen nach kannte. Und so mußte es bleiben, bis man sie unter der wappengeschmückten Grabplatte der Familiengruft zur Ruhe legte. Ihre Augen schauten starr hinaus in die hereindämmernde Nacht, und sie dachte, daß sie noch nicht vierzig Jahre zählte und daß ihr Geschlecht mit hohen Jahren vom Herrn – gesegnet wurde.

Einst war es freilich anders gewesen, damals, als sie noch die schöne Ursula, nicht die herbe hieß. Sie selbst wandelte zwar auch damals schon gemessen ihren Lebensweg, aber ein andrer leichter Schritt umschwärmte sie auf zierlichen Schnabelschuhen, und ob sie auch verweisend das Haupt hob, wenn an der Spitze dieser Kunstwerke ein verpöntes Schellchen klingelte, der Uebermuth zwang doch ihrem stolzen Munde ein Lächeln ab. Damals hallte in den gewölbten Gemächern neben ihrer tiefen, ernsten Stimme ein lustiger Klang, der wie frischer Vogelsang durch das alte Haus schallte, und in ihrem Mieder von Goldstoff steckten im Lenz allzeit die ersten Veilchen, die in der Nürnberger Flur sproßten. Sie lächelte zwar ob der Grasblümchen; denn in ihrem Gewächshaus dufteten Orangen, glühten Liebesäpfel. Aber wenn die feine weiße Hand sie bot und die blauen lachenden Augen so innig baten, da griff sie zu und hegte die duftenden Blumen, so lange ein Hauch von Leben in ihnen war. Er hatte ja auch nicht viel mehr zu geben. Seine Mutter war eine Muhme ihres Vaters gewesen, wurde aber in der Familie nicht sonderlich geachtet, da sie, das Kind eines verarmten Nebenzweiges, nach ihrer Herzensneigung einen geschickten Kupferstecher geheirathet hatte. Beide Eltern waren ihm früh verstorben, und Ursula’s Vater nahm den armen Vetter in die Hinterstube seines weitläufigen Hauses auf, damit er eine Heimath hatte, während er die Klosterschule der Franziskaner besuchte, und sein kleines Erbe übrig blieb für das Leben auf der Hochschule. Denn er wollte oben hinaus, wollte Doctor beider Rechte werden; dann durfte er Wappen und Siegel führen wie die alten Geschlechter, und die stolze Muhme hatte nicht viel mehr vor ihm voraus.

Es war freilich kein leichtes Werk, den Springinsfeld zu meistern. Als Kind schon zeigte sich Keiner eifriger im alten Nürnberger Spiel des Bleblingsstechens, was gleichbedeutend mit „blaue Augen schlagen“ ist. Wenn die jungen Gesellen an einander kamen im beliebten Faustkampfe, so wirbelten gewiß des Vetters Fäuste flott mit. Seine Mitschüler, die nichts in ihre Köpfe bringen konnten als die Ueberzeugung, daß sie als Rathsherrensöhne auch wieder Rathsherren werden müßten, fanden am Niclaus-Tage kleine Trichter zum Einfüllen der Gelehrsamkeit auf ihren Plätzen. Es wurde ein Gelächter und ein Aergerniß in der ganzen Stadt und zum Sprüchworte der Umgegend; die Söhne und die Väter wütheten und riefen: „Das ist der Schalksnarr gewesen.“

Ein ander Mal, als die Dominicanermönche vor ihrem Kloster, wie gebräuchlich war in der Fastenzeit, ein Faß aufstellten und daraus predigten, um die Lust des Volkes am Absonderlichen zu reizen und große Spenden in ihren Opferstock zu sammeln, da war nächtlicher Weile der Boden ausgeschnitten worden, und der Pater fiel durch. Das Volk lachte, die Mönche schrieen: „Das hat der Hansnarr gethan.“

Alle zeigten mit Fingern auf ihn, aber er blieb in keinem Schelmenstreich stecken, sodaß bald die Rede von ihm ging, er werde gewiß ein guter Rechtsgelehrter, der die wächserne Nase tüchtig zu drehen verstünde, mit welcher einer profanen Meinung nach Frau Justitia versehen ist.

Mit seinen Jahren wuchsen in ihm Lustigkeit und Muthwillen. Beim Schönbartlaufen zur Fastnacht trug er stets die lächerlichste Larve vor dem Gesichte. Unerschöpflich, wie die Raketen aus seinem mit Immergrün umwundenen Feuerkolben blitzten seine Witze und Schelmenstreiche nach allen Seiten. Sein Pritschenschlag verschonte die vornehmsten Patricier nicht, und die stolzesten Frauen wußte er durch Mittheilung ihrer tiefsten Geheimnisse in Schrecken zu setzen, bis das ganze vermummte und verluppte Nürnberg hinter ihm her war und schrie: „Fangt den vermaledeiten Narren!“ Da war er verschwunden, als ob er eine Tarnkappe aufgesetzt hätte. Selbst die strengen Rathsherren, die zu Gericht über den ausgeführten Schabernack saßen, trugen plötzlich Täflein auf den Rücken, darauf stand: „Die Nürnberger henken Keinen, sie hätten ihn denn zuvor,“ und stiegen damit würdig einher, bis das allgemeine Geschrei sie belehrte.

Sein Mühmchen aber machte er auf artigere Weise zum Fastnachtsnarren, indem er im verschneiten Hofe den Schlag des Finken nachahmte, von dem er ihr gesagt hatte, derselbe laute: Bin ich nicht ein schöner Bräutigam? Und als Ursula verwundert über den vorzeitigen Frühlingsgast auf den steinernen Laubengang hinauslief, saß er in den noch dürren Zweigen der Blumenesche vor seinem Kammerfenster; ein Regen von künstlichen mit Rosenwasser gefüllten Eiern prasselte auf sie hernieder, und lachend schmetterte er ihr noch einmal den lustigen Ruf entgegen.

Fortuna schien ihm hold. Auch bei dem Schützenfeste, welches die Gilde der Stadt auf der Zollernwiese gab, bei welchem die Glücksgöttin mit einem purpurnen Segel über dem Festplatze thronte und sich von jedem Lüftchen herumbringen ließ, zeigte sie ihm ihre schöne Seite. Er gewann mit einem guten Bogenschusse rothen Sammet zu einem Gewand und in einem Glückshafen bei dem ersten Wurf einen mit silbernen Schellchen behangnen Gürtel.

Aber auch von Fortuna gilt das Wort:

„Frauenlieb’ ist fahrende Hab’,
Heute ich lieb’ dich, morgen schab ab!“


(Fortsetzung folgt.)



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